TV-Duell Er versuchte alles, um die Kanzlerin in die Enge zu treiben, doch so richtig wollte das nicht gelingen. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz warf Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im gestern mit viel Spannung erwarteten TV-Duell Fehler in der Flüchtlingskrise vor. «Sie haben in einem Interview gesagt, Sie würden alles wieder gleich machen wie 2015. Dazu würde ich aber nicht raten.» Schulz spielte auf die Zustände an, als Deutschland die Grenzen für Hunderttausende von Flüchtlingen geöffnet hatte. Schulz’ Attacke zielte nicht auf die grundsätzliche Politik, die in Not geratenen Menschen in Deutschland aufzunehmen. Vielmehr monierte der SPD-Herausforderer, dass Merkel die europäischen Partnerstaaten mit der Entscheidung vor vollendete Tatsachen gestellt habe, anstatt diese zuvor in die Politik der Grenzöffnung einzubinden. «Das sehe ich nun wirklich anders, und ich glaube, Herr Schulz weiss das auch», entgegnete Merkel. Und fügte hinzu: «Er sagt das, um einen kleinen Unterschied herauszuarbeiten.»
Merkels Replik brachte das Dilemma Schulz’ auf den Punkt: Er war bemüht, kleine Unterschiede zur Kanzlerin herauszuschälen, um sich den Wählern als Alternative zur seit zwölf Jahren amtierenden Kanzlerin anzubieten. Doch so einfach ist das nicht, wenn man einer Partei angehört, welche während acht der vergangenen zwölf Jahre zusammen mit der Bundeskanzlerin das Land regiert hat. Zumal sich die SPD in der Flüchtlingskrise ziemlich loyal an die Seite der Kanzlerin gestellt hatte, das Aussenministerium war in den vergangenen vier Jahren fest in der Hand der Sozialdemokraten.
Eine schärfere Diskussion entfachte sich an der Frage, wie mit der Türkei umzugehen sei. Schulz unterstellte Merkel einen zu sanften Umgang mit Recep Tayyip Erdogan. «Ich werde die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU abbrechen, wenn ich Kanzler bin», kündigte Schulz an. Das war eine Steigerung seiner vor etwa einer Woche vorgebrachten und letztlich von Merkel umgesetzten Drohung, die Ausweitung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei zu blockieren. Merkel räumte ein, dass sich die Türkei «in atemberaubendem Tempo von demokratischen Gepflogenheiten» entferne. Allerdings unterstellte sie Schulz indirekt Populismus, weil dieser die wichtige Beitrittsfrage der Türkei in den Wahlkampf zu tragen versuche, um im Endspurt möglichst viele Stimmen holen zu können. Die Ausgangslage vor dem gestrigen TV-Duell hätte unterschiedlicher nicht sein können. Hier die seit 2005 amtierende Merkel, deren Konzentration gestern darauf lag, den Schaden gegen den rhetorisch gewieften Herausforderer Schulz möglichst in Grenzen zu halten. Schulz und seine Partei sahen im gestrigen Auftritt vor 15 bis 20 Millionen TV-Zuschauern die letzte Chance, doch noch einmal Spannung in den bislang eher öden Wahlkampf zu bringen. Umfragen zufolge sollen bis zu 50 Prozent der Wahlberechtigten noch immer nicht sicher sein, welcher Partei sie am 24. September ihre Stimme geben sollen.
Im Gegensatz zu Schulz, der versuchte, auf Attacke zu schalten, zeigte sich Merkel selten emotional. Lediglich bei der Debatte um den Betrug in der Automobilindustrie sagte die Kanzlerin in für sie ungewohnten Worten: «Ich bin stocksauer.» Den Fragen nach der künftigen Regierung wichen beide aus, Merkel betonte, die Union werde nicht mit der AfD zusammenarbeiten. Schulz hingegen wollte eine Neuauflage einer Grossen Koalition nicht ausschliessen. Merkel spielte ihre Rolle als Regierungschefin aus. Schulz verzettelte sich oft in Detailfragen. Einen Punktsieg, der nötig gewesen wäre, um das Duell nochmals offen zu gestalten, hat er nicht eingefahren.
Christoph Reichmuth, Berlin