Vor hundert Jahren brach in Petrograd die russische Februarrevolution aus. Die Zarenherrschaft fiel, und das Land stürzte ins Chaos. Aber nicht jeder in der Stadt erinnert sich daran.
Stefan Scholl, St. Petersburg
Heute heisst die Bäckerei Filippow am Bolschoi-Prospekt auf der Petrograder Seite «Monopol», ein schicker Spirituosenladen mit Bar, schottischen Whisky gibt es hier für 400 Euro die Flasche. «Februarrevolution? Vor hundert Jahren?», die junge Verkäuferin lächelt ratlos. «Wissen Sie, ich arbeite erst ein halbes Jahr hier.»
Am 8. März 1917, nach dem alten julianischen Kalender am 23. Februar, rebellierten in Sankt Petersburg, damals Petrograd, die Arbeiter. Ihre Revolte geriet zur Revolution, kippte in sieben Tagen die unantastbar scheinende Zarenherrschaft. Es folgten politisches Chaos und die Machtübernahme der Bolschewisten, Russland schied besiegt aus dem Ersten Weltkrieg aus, ein noch blutigerer Bürgerkrieg stand dem Land bevor.
Vor der Filippow-Bäckerei wartete eine murrende Menschenschlange. Der dritte Kriegswinter war hart, mit der Versorgung in Petrograd haperte es seit Monaten. Der Inhaber trat auf die Strasse. «Es gibt heute kein Brot.» Das Murren der Menge verwandelte sich in Geschrei. Ein Handwerker schlug mit einer Deichsel das Schaufenster ein, eine Polizeipatrouille sah tatenlos zu, die Menge aber zog weiter, zur nächsten Bäckerei.
Petrograd brodelte. Zwei Kilometer entfernt, auf der Wyborger Seite, gingen die Arbeiterinnen der Textilfabrik Newka auf die Strasse, marschierten zu den Nachbarwerken, schalteten dort den Strom ab. Die Belegschaften folgten ihnen, Zehntausende drängten Richtung Stadtzentrum, die Polizei hatte die Brücken gesperrt, die Arbeiterkolonnen liefen über die festgefrorene Newa. Am Nachmittag demonstrierten knapp 130000 Menschen auf dem Snamenskaja-Platz am Newski-Prospekt. Jeden Tag stieg ihre Zahl, am 10. März waren es schon über 300000. «Die einzige Parole lautete anfangs Brot», sagt der Historiker Konstantin Schukow. «Hätte die Menge den Sturz des Zaren gefordert, die Soldaten hätten vielleicht doch geschossen.» Brot aber war eine unpolitische und zugleich wuchtige Parole: Was taugt ein Staat, der seine eigene Hauptstadt nicht mehr ernähren kann?
Am fünften Tag liefen die ersten Kompanien zu den Aufständischen über. Reservisten, sie standen erst ein paar Wochen unter Waffen, hatten keine Lust, an die Front zu gehen, die schon über 1,5 Millionen russische Soldaten als Kanonenfutter verschlungen hatte. Es gab Schiessereien mit der Polizei, über 1300 Menschen wurden getötet oder schwer verletzt. Arbeiter- und Soldatenräte formierten sich. Am 13. März bildete die Staatsduma, die tagte, obwohl Zar Nikolai II. sie aufgelöst hat, eine neue «Provisorische Regierung». Sie schickte Unterhändler zum Zaren nach Pskow, auf ihr Drängen verzichtete Nikolai am 15. März auf den Thron. Die Monarchie fiel, an ihrer Stelle standen sich jetzt die bürgerlich-liberale «Provisorische Regierung» und proletarische Arbeiter- und Soldatenräte gegenüber. Eine wirre Doppelherrschaft begann, die erst mit dem Handstreich der Bolschewisten im November endete. Er ging als Oktoberrevolution in die Geschichte ein.
Petersburg tropft, Tauwetter, jemand hat die blutroten Visitenkarten eines Schönheitssalons auf dem nassen Eis der Fontanka verstreut. Sonst fehlt die Farbe der Revolution im Stadtbild fast völlig. Revolution hat jetzt niemand im Kopf. Nicht mal die Revolutionäre.
Vor Viktor Tjulkin steht ein aufgeklappter Laptop, hinter ihm prangt ein rotes Banner: «Proletarier aller Länder vereinigt euch.» Tjulkin, gelernter Ingenieur, überzeugter Kommunist, Sekretär der Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei, glaubt weiter an die Unvermeidbarkeit eines gewaltsamen Umsturzes. «Das müssen keine Matrosen mit Karabinern sein, das wird vielleicht nur die Antwort auf die Gewalttaten der wankenden Kapitalisten.» Zurzeit aber sieht Tjulkin in Russland keine revolutionäre Situation. Das ändere allerdings nichts daran, dass man in der Sowjetunion freier gelebt und ehrlicher miteinander umgegangen sei. «Und dafür lohnt es sich zu kämpfen.» Tjulkins Genossen im Parteistab sind zum Grossteil im Rentenalter. Die roten Fahnen aber, die Lenin-Bilder und -Büsten, die überall herumstehen, leuchten staubfrei, hier ist man offenbar sicher, dass sie wieder gebraucht werden.
Für viele Petersburger ist das Jahr 1917 ein weisser Fleck. Ein junger Betriebsjurist versichert, Russland habe damals den Ersten Weltkrieg gewonnen. «Die Masse der jungen Leute ist völlig unpolitisch, denkt nur an ihre Karriere», sagt Andrei Dmitrijew. Der Petersburger Führer der nationalbolschewistischen Partei Anderes Russland, sitzt unter einer roten Fahne. Allerdings prangt darauf eine schwarz-weisse Handgranate.
Die Nationalbolschewisten sind einerseits Kommunisten, andererseits russische Imperialisten. Mehrere Genossen Dmitrijews kämpften im Donbass auf der Seite der prorussischen Rebellen, einer ist dort gefallen. Das Regime habe mit dem Anschluss der Krim eine nationalbolschewistische Idee verwirklicht, seine Haltbarkeitsfrist sei keineswegs abgelaufen, sagt Dmitrijew. Innenpolitisch attackieren er und seine Kameraden es trotzdem weiter. Erst im Januar verbrannten sie die Firmenfahnen vor dem Gazprom-Büro am Englischen Ufer. Und entfalteten ein Transparent: «Kapitalismus ist scheisse. 1917–2017.» 1917 bedeutet für Dmitrijew Oktober. «Februarrevolution?», er grinst. «Wir haben 2012 gehofft, die Liberalen würden wieder eine Februarrevolution hinkriegen, und wir könnten ihnen hinterher die Macht abnehmen. Aber sie sind zu nichts fähig.»
Viele Russen nehmen die Februarrevolution nicht für voll. Sie wirkt wie ein Betriebsunfall nach einer Pannenserie: Heftige Schneefälle stoppten viele Güterzüge mit Lebensmitteln. 300 Petrograder Bäcker waren kurz zuvor zur Armee eingezogen worden. Die 64-Kilo-Mehlsäcke, die sie in die Mehltröge gekippt hatten, konnten von Frauen nicht gehoben werden. Und der Generalstab hatte die zarentreuesten Garderegimenter aus der Hauptstadt an die Front geschickt.
Aber schon Jahrzehnte vorher flackerten im ganzen Reich lokale und nationale Aufstände, die Bauern forderten Land, die junge Grossstadtarbeiterschaft wandte sich vom orthodoxen Christentum dem Sozialismus zu, die lokale Selbstverwaltung funktionierte nicht, der Staat blockierte seine eigenen Reformen. «Russland ging mit dieser Revolution schwanger», sagt Historiker Schukow. Wer wagt zu sagen, womit Russland heute schwanger geht.
Die Fabrik Newka, die am 8. März 1917 als erste streikte, kauert weiter als grauer Klotz am Ufer der Grossen Newa. Sie heisst inzwischen Krasny Nit, «Roter Faden». Jetzt herrscht hier Postindustrialismus, haben sich Cafés, Kleinläden und Handwerksbetriebe eingemietet. Der chic renovierte Backsteinbau gegenüber beherbergt ein Business-Zentrum. Und Viktor Tjulkin beschwert sich, an den Flussufern werde jetzt eine Fabrik nach der anderen abgerissen und durch profitträchtige Wohnhochhäuser ersetzt. Im Gegensatz zum Kommunismus ist der Kapitalismus auch in Petersburg wieder einmal dabei, sich neu zu erfinden.
Den Arbeitern sei ihr Selbstbewusstsein verloren gegangen, klagt die Kranführerin Natalja Lisizyna, eine überzeugte Kommunistin, die wegen ihrer Versuche, die Kollegen zu organisieren, wiederholt gefeuert wurde. «Sie haben das Gefühl dafür verloren, dass wir zehn Millionen sind und dass uns nur eine Handvoll Kapitalisten gegenübersteht.»
Vor den Drehtüren der Fabrik Krasny Nit trifft man beleibte Frauen in billigen Daunenjacken, die Kunstledertaschen und Plastiktüten tragen. Ballonmützen verdecken die Stirnfalten ungeschminkter Gesichter. Malocherinnen, Putzfrauen oder Krankenschwestern, die jetzt orthopädische Einlagen herstellen oder auf Computer umlernen. Auch wenn sie schon 60 sind und Renten von umgerechnet 170 Euro kriegen.
Ob sie von der Februarrevolution wissen? «Natürlich, das Jahr 1917 haben wir in der Schule auswendig gelernt», lächelt eine Fabrikarbeiterin. Ob die Revolution vermeidbar war? «Den Lauf der Geschichte hält niemand auf», sagt sie. «Revolutionen passieren, daran kann niemand etwas ändern. Nur, hinterher leben alle so schlecht wie vorher.» Russlands Proletarierinnen sind müde geworden.