Der türkische Präsident Erdogan sucht die Spannungen mit Deutschland, um die 1,4 Millionen Wahlberechtigten für sich zu gewinnen. Die Atmosphäre in der türkischen Gemeinde in Berlin ist aufgeheizt. Wer gegen Erdogan ist, wird als Terrorist beschimpft.
Christoph Reichmuth, Berlin
Es ist kurz vor 13 Uhr, das Mittagsgebet in der Omar-Moschee in Berlin-Kreuzberg ist vorüber, einige Dutzend vorwiegend ältere Herren treten hinaus auf die Wienerstrasse. Man unterhält sich noch, einige rauchen eine Zigarette. Über Erdogan reden will fast niemand. «Erdogan gut», sagt ein Moscheebesucher, lächelt und geht weiter. «Die Leute hier in Deutschland verstehen Erdogan nicht», sagt ein anderer in gebrochenem Deutsch. Dann erzählt der etwa 70 Jahre alte Mann vom Putsch im Juli in der Türkei, er spricht von Terroristen, die das Land in den Abgrund zu ziehen versuchten. Viele der Putschisten seien nach Deutschland geflüchtet. «Deutschland schützt die Terroristen», meint er. Und: «Erdogan ist der richtige Mann. Die Welt soll aufhören, sich in die türkischen Angelegenheiten einzumischen.»
Der Frühling tut sich in Berlin noch schwer an diesem Mittwochmittag. Nur kurz bahnen sich Sonnenstrahlen durch die dichte Wolkendecke, der Wind bläst unfreundlich und rau, die Temperaturen sind tief. An allen Ecken stehen türkische Imbissbuden und Dönerstände, beim Kottbusser Tor bieten Türken allerlei Gemüse feil. In dem Westberliner Bezirk Kreuzberg wohnen Tausende von türkischen Zuwanderern und Türkischstämmigen. Viele von ihnen sind hier in Berlin aufgewachsen oder wohnen schon seit Jahrzehnten in der deutschen Hauptstadt. Etwa 3 Millionen ethnische Türken leben in Deutschland, alleine 200000 in Berlin.
Die Ereignisse der letzten Monate, vor allem der gescheiterte Militärputsch und die nun im April anstehende Abstimmung über Erdogans Präsidialsystem, haben für eine angespannte Stimmung in der türkischen Gemeinde gesorgt. Es gibt nur Schwarz und Weiss, es gibt nur die Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Gegner. «Ein Dazwischen existiert nicht. Wer sich nicht eindeutig zu Erdogan bekennt, der gilt als Gegner der Türkei, als Terrorist», sagt Kazim Erdogan. Der 64-jährige Türke lebt seit 43 Jahren in Deutschland. Im Bezirk Neukölln, in dem über 40 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund haben, steht er dem Integrationsverein «Aufbruch Neukölln» vor. «Das anstehende Referendum in der Türkei hat die Atmosphäre weiter angeheizt. Viele Türken haben Angst, ihre Meinung offen zu sagen», erzählt der Psychologe. «Ich kenne viele, die unter Angstzuständen leiden.» Mangelnde Integration vieler Türken sei mitverantwortlich, dass Präsident Erdogan mit seinen nationalistischen Tönen auf so viel Resonanz bei Türken in Deutschland stosse, sagt Kazim Erdogan. Etwa 60 Prozent der deutschlandweit 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken haben bei den letzten Wahlen für die AKP von Präsident Erdogan votiert. «Deutschland hat sich zu wenig um die türkischen Gastarbeiter gekümmert. Es existieren Parallelgesellschaften. So wurden viele Türken in Deutschland in die Arme der türkischen Regierung getrieben.»
Präsident Erdogan und seine Entourage wissen um die Bedeutung der Stimmen der türkischen Gemeinde in Deutschland. Mit ihren umstrittenen und zuletzt teilweise verbotenen Wahlkampfauftritten spielen die türkischen Politiker auf die teilweise verletzten Gefühle ihrer Landsleute an, die sich von der Gesellschaft nicht anerkannt fühlen. Die aufgeheizte Stimmung, die provokativen Töne der Politiker, die Anschuldigungen gegenüber Deutschland, der Nazi-Vorwurf – mit dieser Strategie gelinge es der türkischen Regierung, viele Deutschtürken auf ihre Seite zu ziehen. «Die Menschen sind ob solcher Aussagen und der aufgeladenen Atmosphäre verwirrt», sagt Kazim Erdogan, der wegen seiner regierungskritischen Haltung wöchentlich Hassmails und anonyme Drohanrufe erhält. Viele Türken in Deutschland glaubten, durch die Regierung Erdogan erhielten sie endlich jene Anerkennung, die ihnen in Deutschland bislang verwehrt blieb.
Nahe der U-Bahn-Station Schlesisches Tor betreibt Ali Birsin mit seiner kurdischen Frau Günes einen Imbissladen. 90 Prozent seiner Kunden seien Touristen oder Deutsche. «Die Türken kaufen nicht bei mir», sagt der gebürtige Türke. Die Leute in der Umgebung wüssten, dass er vor einer «faschistischen Diktatur» in der Türkei warne, sollte Erdogan die Abstimmung gewinnen. «Meine Freunde in der Türkei wagen es nicht mehr, offen ihre Meinung zu sagen oder gegen Erdogan zu demonstrieren. Sie haben Angst, als Terroristen in Gefängnisse gesteckt zu werden», sagt der etwa 50-Jährige, der seit 18 Jahren in Berlin lebt. Er selbst fürchtet sich nicht vor AKP-Anhängern, manchmal werde er beschimpft, Gewalt sei ihm nie widerfahren. Für Erdogan votierten schlecht gebildete Menschen, sagt er. «Erdogan profitiert davon, dass viele gar nicht stimmen gehen. Er hat kein Interesse daran, dass die Türken gut gebildet und aufgeklärt sind, es würde seine Macht gefährden.» Der gläubige Muslim geht gerne in die Moschee, aber auf politische Diskussionen dort lässt er sich nicht ein. «Viele Imame sind politische Botschafter Erdogans. Sie reden den Moscheebesuchern ein, sie müssten zum Schutz ihrer Religion für die Politik von Erdogan stimmen.» Birsin sorgt sich um sein Heimatland. «Die Gesellschaft ist gespalten, es droht ein Bürgerkrieg. Der Westen muss Druck ausüben auf Erdogan.» Doch auch die westliche Haltung sei scheinheilig. Europa versorge die Kriegsparteien mit Waffen und bezahle Erdogan, damit dieser die Flüchtlinge zurückhalte. «Die Kriege müssen beendet werden, damit sich auch in der Türkei etwas ändern kann.»