Analyse zum türkischen Einmarsch in Idlib
Die Zeiten täglicher Berichte über den Krieg in Syrien sind vorbei. Es braucht schon Gröberes, um das Bürgerkriegsland noch in die Schlagzeilen zu bringen. Der Einmarsch türkischer Truppen ist ein solches Ereignis. Und eines, hinter dem sich militärische und politische Pläne verstecken, die es auszuleuchten gilt.
Die Offensive in der syrischen Provinz Idlib im Nordwesten ist Teil einer türkisch-iranisch-russischen Übereinkunft und Ausfluss der von Russland initiierten Syrienkonferenz in der kasachischen Hauptstadt Astana. Darüber hinaus ist sie ein Beispiel dafür, wie grosse Pläne hinter kleinen Schritten kaschiert werden. Von einem politischen Übergang in Syrien ist keine Rede mehr. Das neue Zauberwort heisst Deeskalation. Im vergangenen Mai wurden in Astana, wo die USA als führende westliche Macht nur Beobachterstatus hatten, sogenannte Deeskalationszonen in Syrien benannt: In den Provinzen Idlib, Hama und Homs und in östlichen Vororten von Damaskus nahm die Gewalt in den Deeskalationszonen aber zu – ausser im Süden in der von gemässigten Rebellen dominierten Provinz Daraa, wo seit längerem relative Ruhe herrscht.
Da es keine Mechanismen zur Umsetzung lokaler Waffenruhen gibt, hängt alles vom guten Willen der Kriegsparteien ab. Will das syrische Regime ein Gebiet zurückerobern, kann es, ohne Sanktionen fürchten zu müssen, weiterbomben. Fürchtet eine islamistische Gruppe um ihren Einfluss, kann sie ohne merkliches Risiko weiter Gewalt schüren. Und wo iranische und libanesische Milizen oder türkische und russische Interventionstruppen eigene Interessen verfolgen, kümmern sie sich nicht um Deeskalation. Aber um deren Interessen geht es vorrangig – auch in der Provinz Idlib. Gemeinsam ist allen internationalen Kriegsparteien in Syrien nur eines: der Kampf gegen den «Islamischen Staat» (IS). Aber auch hier herrscht Rivalität. Der syrische Machthaber Baschar al-Assad und seine Schutzmächte sowie die USA und ihre in den «Democratic Forces» (SDF) vereinten kurdisch-arabischen Milizen liefern sich einen Wettlauf in der Rückeroberung der vom IS beherrschten Gebiete. Idlib ist zudem das letzte grössere Territorium, in dem Dschihadisten dominieren. Seit der Rückeroberung der Stadt Aleppo wurden IS-Kämpfer überall, wo sie die Waffen streckten, mit ihren Familien in die Provinz Idlib evakuiert. Aber es waren nicht nur IS-Kämpfer, sondern auch solche der «Tharir al-Scham» (früher als Al-Kaida-Filiale Nusra-Front bekannt). Nun aber marschieren türkische Truppen, von «Tharir al-Scham» unterstützt, in die Provinz ein. Anscheinend ist Terror nicht gleich Terror. Rivalität mit dem IS genügt, um von Ankara, Teheran und Moskau als nützlicher Verbündeter anerkannt zu werden.
Die Islamisten haben zudem zumindest mit der Türkei ein gemeinsames Interesse: Sie sind nicht an einem zusammenhängenden kurdischen Gebiet in Syrien interessiert. Die Provinz Idlib aber grenzt an die kurdisch beherrschten Regionen Syriens. Die türkische Offensive scheint deshalb eher einer weiteren Eskalation zu dienen. Ein bitteres Indiz dafür, dass der Vielfrontenkrieg in Syrien noch lange andauern wird. Und auch dafür, dass einmal mehr die Zivilbevölkerung den Preis dafür zu bezahlen hat. In russischen und syrischen Luftangriffen sterben nach wie vor Tausende. Angegriffen werden wieder vermehrt Spitäler und andere zivile Einrichtungen. Wenn nicht systematisch, dann als hingenommene «Kollateralschäden». Eine Praxis, der anderorts auch die US-geführte Anti-Assad-Koalition frönt. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF), die in Syrien 73 medizinische Einrichtungen unterstützt, erklärt: «Schwere Bombenangriffe vernichten im Nordwesten des Landes die gesamte Gesundheitsversorgung.» Letztlich dient all dieses Elend dem Assad-Regime, weil es keine autonome Kurdenregion geben soll, weil Teheran und Moskau ihren Einfluss ausdehnen wollen. Und auch weil die USA und ihre westlichen Bündnispartner letztlich keine politische Strategie erkennen lassen, die über einen militärischen Sieg gegen den IS hinausweist.
Walter Brehm