Die Finanzkrise hat Chinas Wirtschaftswunder die Luft abgelassen. Trotzdem könnte die Volksrepublik gestärkt aus ihr hervorgehen. Eine Analyse vor dem Schweiz-Besuch von Ministerpräsident Wen Jiabao.
peking. Wenn Chinas Premier Wen Jiabao diese Woche mit einer hochrangigen Minister- und Unternehmerdelegation Europa besucht, unter anderem auch die Schweiz, dann ist das so, als würde der halbe Bundesrat an Weihnachten mit einem Tross von Wirtschaftsgrössen nach Asien reisen. Das traditionelle Frühlingsfest – heute Montag beginnt für die Chinesen das Jahr des Ochsen – ist normalerweise die einzige Zeit im Jahr, in der Chinas Regierung offiziell in den Ferien ist. Aber was ist derzeit schon normal?
Dass Wen demonstrativ Sonderschichten schiebt, soll dem Volk signalisieren, wie ernst er seine Warnung meint, das kommende Jahr werde schwierig. Denn die Finanzkrise hat Chinas Wirtschaftswunder die Luft abgelassen und dem Land schmerzhaft vor Augen geführt, dass es durch 30 Jahre Öffnungspolitik auf Gedeih und Verderb Teil der globalisierten Welt geworden ist. Nach Jahrzehnten des Bullenmarkts erwartet China im Jahr des Büffels eine Ochsentour.
Zwar hätte der Premier es einfacher haben können. Viele seiner Treffen sind Nachholtermine des europäisch-chinesischen Gipfels im Dezember, den Peking aus Protest gegen eine Begegnung des französischen Präsidenten mit dem Dalai Lama hatte platzen lassen. Doch jenseits aller Propaganda und Scharmützel setzt Wen mit seinem Besuch das richtige Zeichen: So geschlossen die Welt in die Krise gerutscht ist, so geschlossen muss sie nun nach einem Ausweg suchen und über die Lehren beraten, die zu ziehen sind.
Chinas Führung hat es dabei nicht leichter als westliche Regierungen. Trat sie in der Vergangenheit bei Auslandsreisen oft in dem Selbstbewusstsein auf, dass der Aufschwung ihres Landes ohnehin nicht zu stoppen sei, so steht sie nun unter gewaltigem Druck. Chinas Exporte, ein Hauptmotor der Konjunktur, sind dramatisch eingebrochen. Nach fünf Jahren zweistelligen Wachstums expandierte Chinas Bruttoinlandprodukt 2008 nur noch um neun Prozent. 2009 will Wen wenigstens sieben Prozent schaffen, aber einige Ökonomen halten mittlerweile fünf Prozent für realistischer. In westlichen Ohren mag das zwar noch immer nach Boom klingen, doch der Eindruck täuscht. Denn die Wachstumszahlen von Industriestaaten und Schwellenländern lassen sich nicht direkt vergleichen. Wegen seiner Bevölkerungsstruktur und des niedrigen Ausgangsniveaus drohen unterentwickelten Nationen wie China schon Rezessionserscheinungen, wenn das Wachstum unter die Fünfprozentmarke rutscht.
In der Volksrepublik sind sie bereits zu sehen: Schätzungsweise 20 bis 30 Millionen Wanderarbeiter haben ihre Jobs verloren. Universitätsabsolventen finden kaum Stellen. Dabei droht 2009 eine Akademikerschwemme: Sieben Millionen Studenten machen dieses Jahr ihren Abschluss, so viele wie nie zuvor. Ein Sozialsystem, das Chinesen in Not auffangen könnte, gibt es nicht, und die Inflation frisst die ohnehin kleinen Ersparnisse auf.
Gleichzeitig führt die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm, Stadt und Land zu sozialen Spannungen; auch Korruption und ethnische Diskriminierung heizen die Konflikte an. Immer häufiger treibt der Frust die Menschen auf die Strasse, und 2009 gibt es reichlich Anlässe, an denen sich eine grössere Protestbewegung entzünden könnte: Neben den offiziellen Gedenktagen zum 60jährigen Bestehen der Volksrepublik und dem 90. Jahrestag der 4.-Mai-Bewegung, der Geburtsstunde des chinesischen Kommunismus, gibt es auch runde Jubiläen zum Tibeter-Aufstand von 1959 oder dem Tiananmen-Massaker von 1989.
Im Westen beobachten viele Chinas Probleme mit heimlicher Genugtuung. Doch Häme oder gar Triumphgefühle sind fehl am Platz. Die Herausforderung, denen sich der Westen in den vergangenen Jahren durch Chinas Erfolg ausgesetzt sah, werden durch die Krise nicht kleiner, sondern eher grösser. Und es ist nicht auszuschliessen, dass die Volksrepublik sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen wird. Wohl keine Regierung ist so reformerfahren wie die chinesische. Zwar verfügt das autoritäre Regime bei vielen Problemen kaum über das geeignete Instrumentarium. Trotzdem hat es in der Vergangenheit gerade in Krisenzeiten seine Flexibilität, Kreativität und Effektivität unter Beweis gestellt. Deshalb kommt Wen nicht als Bittsteller nach Europa. Im Gegenteil: Die Krise markiert das Ende einer Ära, in der die globalen Spielregeln vom Westen bestimmt wurden.