Neue Brexit-Abstimmung wäre für Theresa May Verrat

Grossbritannien tut sich schwer, einen geregelten Austritt aus der EU zu finden. Plänen für einen erneuten Urnengang erteilt die Premierministerin eine klare Absage.

Sebastian Borger
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Die britische Premierministerin Theresa May. Bild: Andy Rain/EPA (London, 17. Dezember 2018)

Die britische Premierministerin Theresa May. Bild: Andy Rain/EPA (London, 17. Dezember 2018)

Im Streit um die beste Brexit-Lösung geht nach der Geschlossenheit der konservativen Regierungspartei zunehmend auch die Kabinettdisziplin verloren. Offensiv warben Minister der Regierung von Premierministerin Theresa May am Montag für eine Serie von Abstimmungen im Unterhaus; dadurch soll festgestellt werden, welcher Lösung das Parlament seine Zustimmung erteilen würde, falls es den vorliegenden Austrittsvertrag ablehnt. Sollte das mit Brüssel ausgehandelte Abkommen vom Parlament abgelehnt werden, droht am 29. März 2019 ein ungeregelter Brexit mit unabsehbaren Folgen für die Wirtschaft und Chaos in vielen Lebensbereichen.

Regierungschefin Theresa May wandte sich im Unterhaus mit Vehemenz gegen die Idee einer zweiten Volksabstimmung; diese würde «das Vertrauen der Bevölkerung verraten» und der britischen Politik «irreparablen Schaden» zufügen.

Für die Idee einer erneuten Volksbefragung werben einflussreiche Politiker wie der frühere Labour-Premier Tony Blair, aber auch eine Gruppe konservativer Hinterbänkler um Ex-Generalstaatsanwalt Dominic Grieve seit Monaten. Im Oktober gingen für die Forderung in London rund 700 000 Menschen auf die Strasse. Dass die Premierministerin ihr Statement zum jüngsten EU-Gipfel vor allem zu einer Polemik gegen das zweite Referendum nutzte, wertete der Herausgeber der konservativen Zeitschrift «Spectator», Andrew Neil, als grossen Erfolg der Lobbyisten.

Die EU will keine neuen Gespräche

Mit ihrer Einschätzung, wonach in Gesprächen mit den europäischen Partnern «weitere Klärung und Diskussion» möglich sei, stiess May im Parlament auf breite Skepsis. Die 27er-Gemeinschaft hatte vergangene Woche ihre Geschlossenheit hinter dem mit Grossbritannien vereinbarten Paket aus Austrittsvertrag und politischer Zukunftserklärung bekräftigt. Eine Sprecherin der EU-Kommission teilte in Brüssel mit, es gebe «keine neuen Gesprächstermine» mit der britischen Delegation.

Das vorgesehene Unterhausvotum über das Verhandlungsergebnis hatte May vergangene Woche verschoben. Es soll nun um den 15. Januar herum stattfinden. Parteiübergreifend gilt die Ablehnung als wahrscheinlich. Für diesen Fall befürworten mehr als ein halbes Dutzend Minister die Abstimmungsserie, die einen Weg aus der Sackgasse erlauben würde. Festgestellt würde die Präferenz des Unterhauses für eine der folgenden Lösungen: ein Chaos-Brexit ohne Austrittsvereinbarung; eine Lösung à la Norwegen, also Verbleib in Binnenmarkt und Zollunion ohne Stimmrecht am Brüsseler Verhandlungstisch; oder die zweite Volksabstimmung.

Die Premierministerin klammert sich an die Hoffnung, die EU komme doch noch ein bisschen entgegen. Dabei geht es vor allem um das Problem der sogenannten Auffanglösung für Nordirland. Diese soll nur dann in Kraft treten, wenn sich beide Seiten nicht rechtzeitig, also vor Ende der Übergangsphase, auf ein weitreichendes Freihandelsabkommen einigen. Viele britische Abgeordneten wollen die Auffanglösung zeitlich begrenzen. Sie befürchten, Brüssel werde nicht ernsthaft verhandeln. Umgekehrt argumentiert die Republik Irland, unterstützt von ihren 26 EU-Partnern: Der Sinn einer Auffanglösung besteht gerade in ihrer zeitlichen Unbegrenztheit.

Zum Vorschein kommt hier das immense Misstrauen auf beiden Seiten. Es würde die Beziehungen auch dann belasten, wenn es tatsächlich zu einer zweiten Volksabstimmung käme und Grossbritannien in der EU bliebe.

Eine Bürgerversammlung soll es richten

Unterdessen will eine Gruppe prominenter Briten, vom Schriftsteller Ian McEwan bis zum früheren anglikanischen Erzbischof Rowan Williams, von den Erfahrungen anderer Länder lernen. Eine sogenannte Bürgerversammlung von bis zu 500 repräsentativ ausgewählten Wählern soll im Gespräch, unterstützt von Experten, miteinander neue Vorschläge entwickeln. Ähnliche Foren gab es beispielsweise in Irland vor der jüngsten Volksabstimmung über eine Reform des Abtreibungsrechts. Angestrebt wird eine Auflösung der derzeitigen Blockade, schreiben die In­itiatoren in der Zeitung «The Guardian»: «Ohne eine neue Initiative würde die vergiftete Atmosphäre, die unser öffentliches Leben erfasst hat, der Demokratie und unserer Zukunft unwiderruflichen Schaden zufügen.»