Mut zum Kniefall

Willy Brandt (1913–1992) war der erste sozialdemokratische Bundeskanzler im Nachkriegsdeutschland und Friedensnobelpreisträger. Unser Deutschland-Korrespondent Fritz Dinkelmann würdigt diesen deutschen Politiker, der am 18. Dezember 100 Jahre alt würde.

Fritz Dinkelmann
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Berlinkrise 1963: Bürgermeister Willy Brandt mit US–Präsident John F. Kennedy und Bundeskanzler Konrad Adenauer. (Bild: ky/ap)

Berlinkrise 1963: Bürgermeister Willy Brandt mit US–Präsident John F. Kennedy und Bundeskanzler Konrad Adenauer. (Bild: ky/ap)

«Egal, was mich die Sphinx gefragt hätte, ich hätte immer gesagt: Der Mensch, denn es ist doch der Mensch, um den alle Rätsel sich ranken.» (André Gide).

Es war seine Stimme. Es war seine Stimme, kratzig und warm und etwas nasal, aber auch kräftig und aufrührerisch wirkend, selbst dann, wenn er nur politischen Alltag referierte: Es war seine Stimme zuerst, die ich als Kind am Radio hörte und später als Jugendlicher vor dem Fernseher so in ihrem Bann war, dass ich den Redner manchmal nur schemenhaft wahrnahm, bei dem das Gesagte immer dann am Eindringlichsten war, wenn er leise sprach. Manchmal dünn und zerbrechlich, dann trotzig oder wie im Selbstgespräch vertieft, aber auch fordernd und mit lupfig heiteren Tönen. Eine Stimme, die sich von phonisch Null wie aus einem schwarzen Loch heraus buddeln konnte, bis sie sich an einem Gedanken entzündete, der sie bis Oktave 4 trug, brüchig wurde, bis sie sich an einem Gedanken entzündete, der sie noch höher aufschwingen liess und doch nie versiegte, sondern sich mit einem Pfiff in Luft auflöste.

Ich habe Willy Brandt wie einem Sänger zugehört. Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. Er hat mich politisch flügge gemacht und mir das Gefühl gegeben, Seit' an Seit‘ zu schreiten mit allen Rebellen, die «etwas» verändern wollen in dieser Welt. Zusammen mit Aschi Leuenberger und seiner Frau Doris, die in Solothurn am Neujahrstag Kuchen backten für Schang, Ernst, und den andern am Tisch, an dem auch Willi Ritschard sassen und Greti, und manchmal wussten wir nicht, ob von Willi oder Willy geredet wurde. Der Willi sagte einmal: «Jeder Vater hat Kinder. Aber immer weniger Kinder haben einen Vater.» Der Willy hat keinen gehabt.

Verehrt – und bekämpft wie der Teufel

Der Junge war sieben Monate alt und sollte auf den Namen Messias Martin getauft werden. Eine Richterin im US-Bundesstaat Tennessee verbot das mit der Begründung, den Titel Messias habe nur eine Person verdient: Jesus Christus. Mit Willy Brandt hat das nicht nur darum zu tun, weil er von Sozialdemokraten und Sozialisten als Heilsbringer angebetet und als Messias verehrt wurde – oder bekämpft wie der Teufel in Person. Sondern weil er zwar eine weltweit respektierte Persönlichkeit war (auch ohne Heiligenschein) und die Massen begeistern konnte allein mit der Botschaft «Willy Brandt», doch mit eben dieser Person trug er sein Leben lang quälende Kämpfe aus.

Trostlos erlebte Kindheit

Zwar wollte er Willy Brandt sein, schliesslich hatte er sich diesen Kampfnamen selbst ausgewählt, mit dem er als 19-Jähriger im Widerstand gegen die Nazis kämpfte, bevor er 1940 nach Norwegen flüchtete und norwegischer Staatsbürger wurde. Zwei Jahre zuvor hatte Deutschland Herbert Ernst Karl Frahm ausgebürgert, denn mit diesem Namen wuchs Willy Brandt in Lübeck auf, vaterlos und «unbehaust», wie er sagte, bei seiner Mutter. Brandt nannte sie «die Frau, die meine Mutter war». Über seine trostlos erlebte Kindheit als Herbert Ernst Karl Frahm sagte Brandt einmal: «Daraus wird dann so eine frühe Existenz, der gegenüber sie sagen, wenn sie etwas älter werden, also, das isolieren wir mal, lassen wir mal einen Abschnitt für sich bleiben.»

Von Verdrängung zu reden wäre aber trostlos oberflächlich, und dass die Geschichte Willy Brandt dazu nötigte, neudeutsch gesagt, sich «neu zu erfinden», wäre gleichermassen dumm. Brandt, der erste sozialdemokratische Bundeskanzler der Republik, versuchte sein Leben lang zu ergründen, wer er war. Für Millionen Menschen war Willy Brandt eine Verheissung. Ein an sich selbst zweifelnder Politiker, dessen Überzeugungskraft vielleicht eben darin gründete, dass er, wie Jesus, nicht als Messias auf die Welt gekommen war, sondern ihm dieser Titel verliehen wurde von Menschen die spürten, dass ein Suchender Wege suchte für alle, die nicht wussten, wohin die Reise führt.

Die Menge jubelte: «Willy, Willy»

So war das, als er als Regierender Bürgermeister von Westberlin im Kalten Krieg vor einer Mauer stand, die Deutschland spaltete. Und als er – im dritten Anlauf – im März 1970 Bundeskanzler wurde und in seiner Regierungserklärung versprach, «mehr Demokratie wagen» zu wollen, die DDR besuchte, zögerte er, das Hotelfenster zu öffnen, vor dem eine jubelnde Menge «Willy Willy» rief, bis er sich zeigte und mit einer kleinen Handgeste zeigte: Der Weg ist noch lang, und ein sicherer Wegweiser kann ich nicht sein. Doch zusammen mit seinem Freund Egon Bahr, dem liberalen Aussenminister Hans-Dietrich Genscher und anderen politischen Weggefährten setzte er eine neue Ostpolitik durch unter dem Motto: «Wandel durch Annäherung», ging als erster deutscher Kanzler nach Polen und dort auf die Knie, vor dem Ehrenmal des Warschauer Ghettos. Das war nicht geplant, nicht inszeniert und also keine Symbolpolitik, sondern die Geste des um Vergebung bittenden Deutschen. Ein deutscher Friedensstifter, noch immer als vaterlandsloser Geselle verunglimpft damals von Konservativen, die den Kalten Krieg beklagten und ihn aber selbst auf dem Status quo einfrieren lassen wollten. Auch dann noch, als Willy Brandt 1971 für seine Entspannungspolitik den Friedensnobelpreis bekam.

Im Herbst kamen die Depressionen

In seiner Dankesrede zitierte Brandt den norwegischen Zoologen und Friedensnobelpreisträger Friedtjof Nansen: «Beeilt Euch zu handeln, ehe es zu spät ist, zu bereuen.» Sagte ein Kanzler mit dem Ruf, zu zaudern und zögern und sich im Zweifelsfall lieber ins Bett zu legen als zu entscheiden: SPD-Zuchtmeister Herbert Wehner trieb es zur Weissglut, wenn er von Brandt hörte: «Ich lieg‘ ab und zu mit einer Erkältung einige Tage…, die dann wohl auch Ausdruck einer gewissen Erschöpfung ist…“ Seine langjährige Ehefrau Rut sagte dazu: «Im Herbst kriegte er seine Depressionen und legte sich hin.» Kanzleramtschef Horst Ehmke kannte Brandts Depressionen, trotzdem: «Willy, wir müssen regieren», musste er ihm bei Gelegenheit schon sagen.

Die Affäre Guillaume

Am 7. Mai 1974 will Brandt aber nicht mehr regieren. Günter Guillaume, Referent im Kanzleramt, war als DDR-Spion überführt – was Brandt schon längere Zeit wusste, ohne Konsequenzen zu ziehen. Im Gegenteil organisierte Guillaume für ihn immer noch Frauen für seine sexuellen Bedürfnisse. Der damalige Chef des Verfassungsschutzes hielt Brandt deshalb für erpressbar. Helmut Schmidt fand das absurd: «Wegen diesem Scheisskerl muss ein deutscher Bundeskanzler nicht zurücktreten.» Doch dann wurde der Macher Schmidt sein Nachfolger, und später feierte die Welt Helmut Kohl als Vater der deutschen Einheit. Darüber zu spekulieren, ob die Mauer auch ohne seine Ostpolitik gefallen wäre, ist müssig. Fakt ist, dass Willy Brandt als Friedensaktivist in ganz Deutschland lange darauf hin gewirkt hat, als Kohl sich politisch verweigerte. Trotzdem war Brandt kein Messias, und auch kein Heilsbringer. Aber wahrscheinlich hat er Deutschland vor grossem Unheil bewahrt in einer Zeit, in der ein Dritter Weltkrieg drohte.

Dem Land eine neue Identität gegeben

Ach, wie gern wär‘ er ein Lebemann gewesen wie Kennedy, dieser Willy, der nie glauben mochte, «dass der Knabe Herbert Frahm ich selber war», dieser «unglaublich einsame und vereinsamte Mensch», wie seine letzte Ehefrau Brigitte Seebacher ihn erlebte. Doch dieser Zweifelnde und Verzweifelte hat Deutschland eine neue Identität gegeben und eine anständige Stimme in dieser Welt.

Historischer Kniefall 1970: Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos in Polen. (Bild: ky/ap)

Historischer Kniefall 1970: Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos in Polen. (Bild: ky/ap)

Willy Brandt am Abend nach den Neuwahlen zum deutschen Bundestag, 19. November 1972. Er holte mit 45,8 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis für die SPD in ihrer Geschichte. (Bild: Magnum/Thomas Hoepker)

Willy Brandt am Abend nach den Neuwahlen zum deutschen Bundestag, 19. November 1972. Er holte mit 45,8 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis für die SPD in ihrer Geschichte. (Bild: Magnum/Thomas Hoepker)