Moskau ist fassungslos

Schweigend verfolgt der Kreml die Umbrüche in der Ukraine. Ohne seinen westlichen Nachbarn bleibt Wladimir Putins Entwurf einer «Eurasischen Union» als Weltmacht ein Papiertiger.

Klaus-Helge Donath
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Wladimir Putin äusserte sich am russischen Feiertag der Armee nicht zu den Entwicklungen in der Ukraine. (Bild: ap/Alexander Zemlianichenko)

Wladimir Putin äusserte sich am russischen Feiertag der Armee nicht zu den Entwicklungen in der Ukraine. (Bild: ap/Alexander Zemlianichenko)

MOSKAU/KIEW. Russland hat sich eine Auszeit genommen. Am Samstag beklagte sich Aussenminister Sergej Lawrow, die Opposition in Kiew habe keine einzige Verpflichtung erfüllt, und warf ihr «Wortbruch und Unfähigkeit» vor. Danach forderte der Aussenamtschef noch Frank-Walter Steinmeier telefonisch auf, seinen Einfluss auf die Opposition geltend zu machen und die Lage «sofort zu ändern». Seither herrscht Stille in Moskau.

Auch Präsident Wladimir Putin äusserte sich bei einer Kranzniederlegung anlässlich des russischen Feiertages der Armee an der Kremlmauer nicht zu den Entwicklungen beim westlichen Nachbarn. Völlig fassungslos reagierten auch Moskaus Staatssender darüber, dass Präsident Wiktor Janukowitsch einfach abtauchte und das Land sich selbst überliess. Unaufhörlich verbreiten sie im Rückgriff auf dubiose Figuren aus dem pseudowissenschaftlichen rechten Spektrum Russlands Horrormeldungen und Verleumdungen über die Protagonisten in Kiew. Manchmal entsteht der Eindruck, als sollten die Zuschauer auf eine «brüderliche Hilfe» nach sowjetischem Vorbild beim Nachbarn vorbereitet werden.

Das Ende des Imperiums

Für Wladimir Putin, dessen Olympiamannschaft am letzten Tag noch als Gesamtsieger der Spiele in Sotschi hervorging, kommen die Ereignisse in Kiew zur Unzeit. Vor einigen Wochen galt er noch als Sieger im Streit mit der EU um die Ukraine, die er in den russischen Orbit zurückholen wollte. Kiew war der Schlüssel für das neue Konzept einer «Eurasischen Union», mit der sich Moskau geopolitisch als Weltmacht zurückmelden wollte. Ohne die Ukraine bleibt dieser Entwurf ein Papiertiger. Moskau wird sich damit abfinden müssen, den Aufbau eines Nationalstaates in Angriff nehmen zu müssen. Für Russland endet die Geschichte als Imperium, und für die Ukraine ging am 22. Februar auch jene Zeit zu Ende, in der sie noch als Quasi-Sowjetrepublik – nach dem Zusammenbruch der UdSSR – fortexistieren musste. Daher erklärte sich auch die Schaukelpolitik der ukrainischen Eliten. Moskaus gegenwärtiges Herrschaftssystem braucht eine instabile Ukraine.

Föderaler Staatsaufbau

Gelingt es dem Kreml, auf die russische Bevölkerung im Ostteil des Landes so einzuwirken, dass auch weiterhin die Entwicklung behindert wird? Wladimir Putins Berater Sergej Glasjew favorisiert einen föderalen Saatsaufbau der Ukraine. Auf den ersten Blick macht dies auch Sinn, um den unterschiedlichen kulturellen und zivilisatorischen Zugehörigkeiten gerecht zu werden. Dennoch scheint ein Kalkül dahinterzustecken, dass Moskau sich den Osten und Süden nach und nach einverleiben kann. Sergej Glasjew stammt aus dem patriotisch-nationalistischen Spektrum und plädierte während der Auseinandersetzungen auf dem Maidan schon früh für den Einsatz von Gewalt. Angesichts eines Staatsstreiches hätten die staatlichen Institutionen keine andere Wahl, als zur Gewalt zu greifen, meinte er. Präsident Janukowitsch hätte die Verpflichtung, den Staat zu verteidigen, nicht erfüllt und stattdessen mit Putschisten verhandelt. Ein föderaler Staatsaufbau könnte die prorussischen Regionen ermuntern, eine europäische Ausrichtung Kiews durch Veto zu blockieren. Inwieweit Moskau angesichts separatistischer Krisenherde im eigenen Land das Risiko eingeht, dergleichen Strömungen beim Nachbarn zu fördern, bleibt abzuwarten.

Desaster wirft Schatten voraus

Der Wandel in der Ukraine verlangt von Russland sehr viel auf einmal. Denn auch innenpolitisch wirft das Desaster des gescheiterten Präsidenten Schatten voraus. In Kiew stürzte eine autoritäre postsowjetische Kleptokratie. Die Machthaber in Moskau unterscheiden sich davon nicht. Nur Russland ist grösser, reicher und mit Atomwaffen ausgestattet. Nicht verwunderlich wäre es, wenn der Kreml den Sturz Janukowitschs persönlich nähme. Das würde das russische Verhältnis zum Westen noch schwieriger gestalten. Nicht ausgeschlossen ist, dass sich Moskau demnächst China zuwendet. Demonstrativ – aber nicht auf Dauer.