LATEINAMERIKA: Abtreibung als Privileg für Reiche

An den Folgen eines illegalen Schwangerschaftsabbruchs sterben in Argentinien jährlich bis zu hundert Frauen – vor allem arme. Eine neue Gesetzesvorlage soll dies nun ändern.

Camilla Landbø, Buenos Aires
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Pro-Abtreibung-Aktivistinnen demonstrieren vor dem argentinischen Kongress. (Bild: Victor R. Caivano/AP (Buenos Aires, 20. März 2018))

Pro-Abtreibung-Aktivistinnen demonstrieren vor dem argentinischen Kongress. (Bild: Victor R. Caivano/AP (Buenos Aires, 20. März 2018))

Camilla Landbø, Buenos Aires

Eine Dame betritt in Buenos ­Aires schnellen Schrittes eine Privatklinik. Anderswo in Argentinien geht ein Mädchen durch die Hintertür in eine kleine Praxis. Und in einem Dorf verschwindet eine Frau in einer einfachen Behausung mit improvisiertem Behandlungszimmer. Diese Frauen haben etwas gemeinsam: Inkognito begeben sie sich zu einem ­illegalen Schwangerschafts­abbruch. Werden sie erwischt, droht ihnen ein Strafverfahren. Der Unterschied: Die wohlhabende Hauptstädterin wird in der Privatklinik nach modernen medizinischen Standards behandelt, bei Komplikationen sind alle notwendigen Mittel zur Hand. Die anderen zwei Frauen können in der Regel nicht damit rechnen.

Je nach Quelle sterben in Argentinien jährlich zwischen 50 und 100 Frauen an den Folgen einer illegalen Abtreibung. Sterben tun fast ausschliesslich Frauen aus armen Verhältnissen, die sich einen Abbruch in einer Privatklinik nicht leisten können. Dort kostet ein Eingriff zwischen 1000 und 1500 Dollar – ein Betrag, den viele Menschen nicht einmal monatlich zum Leben zur Verfügung haben. In Argentinien gilt Abtreibung laut Strafgesetzbuch als «Delikt gegen das Leben» und ist nur erlaubt, wenn eine Frau nach einer Vergewaltigung schwanger wurde oder ihre Gesundheit gefährdet ist. Mitte der Nullerjahre schätzte das Gesundheitsministerium, dass bis zu 500 000 Abtreibungen pro Jahr im Verborgenen durchgeführt werden.

Eine neue Gesetzesvorlage will nun den Schwangerschaftsabbruch im südamerikanischen Land entkriminalisieren. Sie ­fordert eine «sichere, legale und kostenlose Abtreibung bis zur 14. Woche». Grünes Licht zur ­Debatte gab überraschend Argentiniens konservativer Präsident Mauricio Macri. Es sei Zeit für eine reife und verantwortungsvolle Auseinandersetzung. Fügte aber sogleich an, er selber sei «für das Leben».

Debatte erfasst das ganze Land

Seither kochen im Land die Gemüter hoch, die gesamte argentinische Gesellschaft scheint an der Debatte teilzunehmen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht auf Fernsehkanälen und im Radio rege diskutiert und gestritten wird. In den sozialen Medien schlagen sich Befürworter und Gegner verbal die Köpfe ein. Als Anfang März der Gesetzesentwurf zur Legalisierung im Parlament eingereicht wurde, versammelten sich vor dem Kongresshaus einige hundert Frauen mit grünen Halstüchern. Die Tücher sind zum Symbol des Kampfes für einen legalen Schwangerschaftsabbruch geworden.

Nur zwei Tage später – am internationalen Frauentag – kam es zu massiven Demonstrationen landesweit. Alleine in Buenos ­Aires nahmen zwischen 200 000 und 350 000 Menschen teil. «Jede Frau soll selber über ihren Körper entscheiden können» hiess es auf Plakaten. Die Antwort darauf war der «Marsch fürs Leben» Ende März: Etwa zwei Millionen Personen aus konservativen und religiösen Kreisen protestierten in über 200 Städten. Der Embryo sei ein Argentinier mit Rechten, den es zu schützen gelte. Innerhalb von zwölf Jahren ist es der siebente Anlauf zur Legalisierung. Die vorigen sechs Versuche endeten ohne Debatte in einer Schublade – letztes Mal während der Präsidentschaft von Cristina Kirchner (2007–2015). Zu dieser Zeit war Papst Franziskus noch Kardinal Ber­goglio. Als vehementer Abtreibungsgegner rief er 2009 die Christen auf, «gegen diese Kultur des Todes» zu kämpfen.

Auch in vielen anderen lateinamerikanischen Staaten ist Abtreibung nur unter gewissen Umständen legal. Dagegen wehren sich zusehends die Frauen. An einem Aktionstag vergangenen September etwa forderten sie in zahlreichen Städten Lateinamerikas eine «legale Abtreibung, um nicht zu sterben». Letztes Jahr wurden in Bolivien und in Chile die Abtreibungsgesetze gelockert. In Uruguay, Kuba, Puerto Rico und in Mexiko Stadt ist Abtreibung innerhalb der ersten drei Monate straffrei wie in der Schweiz. Ganz anachronistisch überlegt sich dagegen Brasilien, wieder ein komplettes Abtreibungsverbot einzuführen.

«Wir wollen die Toten dezimieren»

In Argentinien erhebt sich nun ebenso in katholischen Kreisen eine Bewegung für die Legalisierung. Schülerinnen einer katholischen Schule in der Provinz Buenos Aires zogen sich entgegen der Anordnung der Schulleitung grüne Halstücher an und verbreiteten die Protestaktion in den sozialen Medien. Und die Gruppierung «Katholische Frauen für das Recht, entscheiden zu können» trat an die Öffentlichkeit: «Man kann katholisch und gleichzeitig für die Abtreibung sein. Und ja, auch wir Katholikinnen treiben ab.»

Am Dienstag haben die Anhörungen in den Kommissionen des Parlaments begonnen. Unter den Befürwortern, die mittlerweile in allen politischen Lagern zu finden sind, wird zunehmend versucht, den Fokus der Diskussion zu verschieben und die ­Ebene der individuellen Moralvorstellungen und religiösen Auffassungen zu verlassen. Vanina Biasi, Vertreterin der «Nationalen Kampagne für ein Recht auf eine legale, sichere und kostenlose Abtreibung», sagt: «Hier geht es darum, die Realität zu akzeptieren: Frauen treiben ab. Ob der Abbruch legal oder illegal ist. Wir wollen die ­Toten dezimieren – vor allem bei den armen Frauen.»