KAPITALISMUSKRITIK: Datenbank der Ungleichheit

Starökonom Thomas Piketty schafft eine «Beobachtungsstelle», die nationale Regierungen bei sozialpolitischen Gegenmassnahmen Hilfe leisten soll.

Stefan Brändle, Paris
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Stefan Brändle, Paris

Thomas Piketty war mit seinem Bestseller «Das Kapital im 21. Jahrhundert» vor vier Jahren weltberühmt geworden – doch Starallüren plagen ihn bis heute nicht: Besucher holt der 46-jährige Ökonomieprofessor persönlich im Korridor der Paris School of Economics ab. Hier geht er von der Theorie seines 800-seitigen Wälzers zur Praxis über: Zusammen mit seinem jungen Mitarbeiter Lucas Chancel hat er im Januar ein «Observatorium für globale Ungleichheiten» gestartet.

Langsam nimmt die Datenbank Form an. Ziel ist es, Einzelbürgern einen raschen und interaktiven Zugriff zu allen verfügbaren Informationen zu bieten – und den internationalen und nationalen Verantwortlichen Entscheidungshilfen zum Abbau der strukturellen Ungleichheit zu geben. Die World Wealth and Income Database (WID) beschäftigt schon gut hundert Forscher vor allem in Paris, an der kalifornischen Universität in Berkeley sowie in weiteren 70 Ländern. «Und das ist erst der Anfang», meint Piketty. «Bei meinen Reisen heuere ich ständig neue Teilnehmer an, vor allem in Schwellenländern, die bisher nur über ungenaue Datensammlungen verfügen.»

Einkommensschere in den USA besonders gross

Ausgangspunkt der Website wid.world ist eine Weltkarte, die auf einen Blick die Ungleichheiten in den einzelnen Ländern festhält. Von dort aus gelangt man in die nationalen Statistiken.

Für viele Länder Südamerikas, Afrikas und des Mittleren Ostens fehlen in der WID-Datenbank noch die Angaben. Die Löcher werden durch die dazustossenden Ökonomen neuer Länder nach und nach gestopft. «Unsere Zahlen gehen in Sachen Ungleichheit bereits weiter als die Angaben von Währungsfonds oder Weltbank», meint Piketty. Aufschlussreich sind die US-Daten. Eine rote und völlig flache Linie am unteren Grafikrand verkörpert die tiefen Einkommen: Sie stagnieren seit den 70er-Jahren bei rund 16000 Dollar im Jahr, zumal die Mindestlöhne abgenommen haben. Die Kurve der höchsten Einkommen ist in den USA hingegen steil – um das Dreissigfache – angestiegen. «Da wird auf einen Blick klar, wie sich die Einkommensschere in den Vereinigten Staaten geöffnet hat», folgert Piketty.

Der Ökonom fügt allerdings von sich aus an, diese Kurve enthalte kein moralisches Urteil: «Wir liefern nur die Daten und schaffen Transparenz.» Nicht auf der Website, aber im Gespräch stellt Piketty dennoch einen Bezug zum Wahlerfolg von Donald Trump her: «Das war auch eine politische Revolte gegen die wachsende Ungleichheit.» Das Wahlresultat sei umso paradoxer, als der Kurs der neuen US-Administration die Ärmeren zuerst treffen werde: «Trump in den USA oder Marine Le Pen in Frankreich vertiefen mit ihren protektionistischen und damit wachstumshemmenden Massnahmen nur noch die Ungleichheiten.» Ist das ein Votum für den Freihandel? «Ich bin nicht gegen internationale Handelsabkommen», antwortet er. «Bloss sind diese Übereinkünfte ungenügend. Sie enthalten keine zwingenden Bestimmungen für ein nachhaltiges, gerechteres Wachstum.» Trotzdem zieht er den Zollschranken eine gerechte Steuerpolitik in jedem einzelnen Land vor. Das ergibt sich laut Piketty aus den Statistiken: «Länder mit höheren und progressiveren Steuersätzen schaffen es besser als andere, die Ungleichheiten in Grenzen zu halten.» Aus den Vergleichsdaten gehe zudem klar hervor, welchen Einfluss bessere Bildung und Lohngerechtigkeit hätten, meint Piketty. Einschränkend präzisiert der Ökonom, Lohnerhöhungen seien nicht einfach der Weisheit letzter Schluss. «Sie können zur Streichung von Stellen und zu mehr Arbeitslosigkeit führen, was die Ungleichheit ebenfalls erhöht.» Kapitalsteuern und eine stärkere Steuerprogression seien wirkungsvoller.

Zum Schluss drängt sich eine Frage auf: Hat die Globalisierung die Ungleichheiten verstärkt? «Die Annahme liegt natürlich nahe», meint Pikettys rechte Hand Lucas Chancel. «Gebildete Leute wissen offene Landesgrenzen sicher besser zu nutzen als schlechter gebildete, die noch der Konkurrenz durch Billiglohnländer ausgesetzt sind. Doch gesicherte Daten fehlen dazu bis heute.» Womit er einen weiteren Grund nennt, die Piketty-­Datenbank voranzutreiben.