Ägyptens Moslembrüder trotzen den Gewehrkugeln und weiten ihren Protest auf ganz Kairo aus. Erneut kommen Dutzende Demonstranten ums Leben, Terrorattacken häufen sich.
KAIRO. Nur zwei Tage nach der Tötung Hunderter ihrer Mitglieder hat die Moslembruderschaft mit einer Machtdemonstration mitten in Kairo bewiesen, dass sie nicht klein beigeben will. Zehntausende ihrer Anhänger zogen gestern nach den Freitagsgebeten in Sternmärschen auf den Ramsis-Platz im Zentrum. Viele von ihnen trugen Bandagen an Kopf oder Armen, Verletzungen, die sie sich beim Massaker am Mittwoch zugezogen hatten. «Nieder mit der Armeeherrschaft!», skandieren die Islamisten.
Auf der Fussgängerinsel in der Mitte des Platzes sieht es am frühen Nachmittag wie auf einem Steinbruch aus. Männer brechen mit Eisenstangen Pflastersteine aus den Gehwegen: Munition im Kampf gegen das Militär mit seinen Panzern und Maschinengewehren. Von den umliegenden Brücken schallt immer wieder der Ruf «Allahu Akbar» herüber, «Gott ist gross». Sobald ein Armeehelikopter über die Menge fliegt, wechselt der Chorus in «Sisi Katil»: Armeechef Abdel Fatah al-Sisi sei ein Mörder.
Schon nach kurzer Zeit bricht auf dem Ramsis-Platz Gewalt aus. Um halb drei Uhr übertönt erstmals Maschinengewehrfeuer die Protestrufe. Polizei und Armee, die zuvor grosse Teile des Stadtzentrums abriegelten, sind auf dem Vormarsch. Tags zuvor hatte die Armee die Sicherheitskräfte angewiesen, mit scharfer Munition auf alle zu schiessen, die Regierungseinrichtungen angriffen. Die Moslembrüder sind unbeeindruckt. «In Algerien sind hunderttausend Menschen im Bürgerkrieg gestorben. Wir sind bereit, dasselbe Opfer zu bringen», sagt ein junger Demonstrant, als erste Schüsse fallen. Wie viele andere auch hat er seinen Namen auf den Unterarm geschrieben. Sollte er als «Märtyrer» sterben, könne er leichter identifiziert werden.
Wenig später zeigen Fernsehbilder, wie sich Menschen von einer Brücke nahe der Polizeistation Ramsis abseilen, als Sicherheitskräfte das Feuer auf sie eröffnen. Anscheinend schiessen diese wahllos in die Menschenmenge. Einige Personen springen in Panik mehrere Meter in die Tiefe. Auf Motorrädern und Pick-ups transportieren freiwillige Helfer Verletzte in ein Feldlazarett. Einige werden mit Fähren auf die andere Seite des Flusses gebracht. Wieder viele Tote.
In Dutzenden weiteren Städten des Landes kam es gestern ebenfalls erneut zu schweren Krawallen, die mehrere Tote forderten.
Die Sicherheitskräfte scheinen sich auch für die zahlreichen blutigen Attacken auf Polizeistationen der letzten zwei Tage rächen zu wollen. Allein in einem Vorort Kairos wurden in der Nacht auf gestern elf Polizisten getötet. In vielen anderen Städten kam es zu ähnlichen Terrorattacken. Auch die Überfälle auf die christliche Minderheit setzten sich fort. «Wir wollen weiter friedlich bleiben. Aber die Emotionen unserer jungen Mitglieder können wir nicht kontrollieren», sagt Ali, ein 50jähriger Physiker und Mitglied der Bruderschaft.
Viele Moslembrüder glauben weiter, dass sie die Militärs in die Knie zwingen können. Sie setzen darauf, dass die entfesselte Gewalt, mit denen die Generale gegen sie vorgehen, die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten drehen wird. «Alle haben die Brutalität gesehen, mit der man uns abschlachtet», sagt Ali. «Das Volk wird sich mit uns verbünden.»
Vorerst scheint diese Strategie nicht aufzugehen: Überall formierten sich Bürgerwehren, Anwohner stellten Strassensperren auf, um Islamisten abzufangen.