Italien leert seine Gefängnisse

Die Regierung von Enrico Letta beschliesst die vorzeitige Entlassung von etwa 3000 Strafgefangenen. Der Grund für die staatliche Barmherzigkeit ist fast jedes Jahr derselbe: Italiens Gefängnisse sind überfüllt.

Dominik Straub
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Bald Tag der offenen Türe für 3000 Häftlinge in Italien. Mit Amnestie und Strafmilderungen will die Regierung die chronische Überbelegung der Gefängnisse mildern. (Bild: epa/Alessandro di Meo)

Bald Tag der offenen Türe für 3000 Häftlinge in Italien. Mit Amnestie und Strafmilderungen will die Regierung die chronische Überbelegung der Gefängnisse mildern. (Bild: epa/Alessandro di Meo)

ROM. Im italienischen Strafvollzug herrschen unhaltbare Zustände. Staatspräsident Giorgio Napolitano hatte, schockiert von einem Besuch im überfüllten Kerker Poggioreale in seiner Heimatstadt Neapel, seit langem Massnahmen zur Verbesserung der Situation der Strafgefangenen gefordert. An seinem vorweihnachtlichen Empfang der staatlichen Autoritäten hatte er die Regierung am Montag erneut zum Handeln gedrängt.

65 000 Häftlinge, 47 000 Plätze

Die Zustände in den Gefängnissen «sind eines zivilisierten Landes unwürdig», betonte das Staatsoberhaupt; es müsse dringend etwas gegen die chronische Überbelegung unternommen werden. Auch Brüssel hat Italien schon mehrfach gemahnt. Derzeit sind 65 700 Insassen in den Gefängnissen der Stiefel-Halbinsel eingepfercht; die offizielle Kapazität der Haftanstalten beträgt aber lediglich 47 000 Plätze. Die hygienischen Verhältnisse in vielen Gefängnissen spotten jeder Beschreibung; die Selbstmordrate unter den Gefangenen ist hoch.

Italien wählt bequemen Weg

Grundsätzlich hätte die Regierung zwei Möglichkeiten, gegen die Überbelegung der Strafvollzugsanstalten vorzugehen: Entweder sie beschliesst den Bau neuer Gefängnisse, oder sie passt die Belegung den aktuellen Kapazitäten an.

Italien wählt – mal aus Bequemlichkeit, mal aus Geldmangel – regelmässig den zweiten Weg: Alle paar Jahre kommen einige tausend Delinquenten in den Genuss einer Amnestie, eines Straferlasses oder sonst eines staatlichen Rabatts, der ihnen vorzeitig die Zellentüren öffnet.

Mehrere Rabatt-Massnahmen

Im Unterschied zum früheren Premier Romano Prodi, der 2006 einen generellen Straferlass von drei Jahren gewährte, hat die Regierung Letta nun an mehreren Gesetzen herumgeschraubt.

So werden die Strafen für kleinere Drogendelikte rückwirkend gemildert, wodurch sich rund 1700 Zellen leeren dürften. Ausserdem soll der Rabatt für «gute Führung» von 45 auf 75 Tage pro abgesessenes Halbjahr erhöht werden. Mit dieser Massnahme werden weitere 1000 bis 1500 Gefängniszellen frei.

Insgesamt dürften dank dem Noterlass der Regierung rund 3000 Häftlinge freikommen. Regierungschef Enrico Letta versicherte gestern, dass kein Automatismus eingeführt und dass durch das Dekret die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger nicht tangiert werde.

Leere Kassen, keine Neubauten

Im Vergleich zur Mitte-Links-Regierung von Prodi, die vor sieben Jahren als eine ihrer ersten Amtshandlungen 27 000 Verbrecher auf freien Fuss gesetzt hatte, agiert die Koalitionsregierung von Letta tatsächlich mit Augenmass. Allerdings haben seit dem Amtsantritt Lettas vor neun Monaten durch andere Massnahmen bereits weitere 4000 Sträflinge ihre Zellen verlassen können.

Und im Unterschied zu Prodis Radikalkur ist die neue Massnahme weit davon entfernt, die Überbelegung der Gefängnisse zu beseitigen. Vom Bau neuer Gefängnisse redet angesichts der komplett leeren Staatskasse weiterhin niemand.

«Gefängnisse mit Drehtüren»

Die wiederkehrenden Strafrabatte haben noch nie zu einer dauerhaft tieferen Belegung geführt: Erhebungen haben ergeben, dass 85 Prozent der vorzeitig Entlassenen innerhalb von weniger als einem Jahr rückfällig werden und in ihre Zellen zurückkehren; die übrigen freigewordenen Plätze füllen sich mit Neuzugängen.

«Gefängnisse mit Drehtüren» nennen dies Italiens Medien. Dazu gesellt sich eine grundsätzliche Kritik der Polizei: «Die Strafrabatte sind eine Respektlosigkeit gegenüber den Opfern, deren Würde durch die Straffreiheit der Delinquenten ein zweites Mal verletzt wird», sagt Felice Romano, Chef der grössten Polizeigewerkschaft Italiens.