«In sechs Jahren ein Entwicklungsland»

An einem Protest gegen Putin in Moskau beteiligten sich bei Temperaturen um die minus 17 Grad nach Angaben der Opposition rund 120 000 Menschen, die Polizei sprach von 36 000 Teilnehmern. Für die Regierung demonstrierten in Moskau laut Polizei knapp 140 000 Menschen.

Klaus-Helge Donath
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Anti-Putin-Protest in Moskau: «Nun hat er auch noch den Wettergott auf seiner Seite.» (Bild: ap/Alexander Zemlianchenko)

Anti-Putin-Protest in Moskau: «Nun hat er auch noch den Wettergott auf seiner Seite.» (Bild: ap/Alexander Zemlianchenko)

MOSKAU. «Nun hat er auch noch den Wettergott auf seiner Seite», flucht eine ältere Frau, als sie aus der Metro auf den Oktjabrskaja-Platz hinaustritt. Sie zieht die Pelzmütze tiefer, wickelt den Schal enger und fummelt noch ein Paar Pelzfäustlinge über die Wollhandschuhe.

Warnung vom Amtsarzt

Mit «er» meint die Frau Wladimir Putin, den Premier und Präsidentschaftskandidaten, gegen den seit den Wahlfälschungen bei den Dumawahlen im Dezember immer mehr Menschen auf die Strasse gehen. Russlands oberster Amsarzt warnte die Bevölkerung, sich nicht den Gefahren einer Unterkühlung beim Demonstrieren auszusetzen. Auch der Patriarch der orthodoxen Kirche liess durchblicken, dass der klirrende Frost letztlich höherer Wille sei.

Trotz der Ratschläge und Warnungen zog es über hunderttausend Demonstranten für faire Wahlen und gegen eine dritte Amtszeit Wladimir Putins auf die Strasse.

Der 4. Februar ist in Russland nicht irgendein Datum. Am selben Tag vor 22 Jahren war Moskau schon einmal Schauplatz einer Grossdemonstration. Damals forderten Hunderttausende die Aufhebung des Monopols der KPdSU und leiteten damit das Ende des Regimes ein. Am nächsten Tag hob das Zentralkomitee der Partei die Vorrangstellung auf.

Erbe verpflichtet, aber mit so einem Erfolg ist heute nicht zu rechnen. Die Proteste stehen am Anfang, und den Machthabern im Kreml steht das Wasser noch nicht bis zum Hals.

Artjom ist ein ganz aktiver Agitator, der seine Umgebung ungefragt unterhält. Der 22jährige Uniassistent trägt mit seinem Kommilitonen ein Transparent mit der Aufschrift: «Russland ist totalitär – schon wieder». In einer Mischung aus Pop- und Trash-Art teilt er darauf noch mit, was er vom System Putin sonst hält. Um es kurz zu machen: nicht viel, eine Räuberbande sei es. Der Biologe von der Moskauer Staatsuniversität hält den Transparentstock hoch: «Aus unserem Öl, das Rohr stammt aber aus Polen. Wir liefern auch Holz nach China und kaufen Zahnstocher zurück.» Artjom kann sich richtig ereifern.

Die Mitmarschierer drehen sich lachend, aber wohlwollend nach ihm um. Gelegentlich fordert ihn sein Kollege Fjodor, ein stillerer Typ, auf, etwas leiser zu reden und auf den Weg zu achten. Artjoms Mitteilungsdrang können nur die Sprechchöre der Demonstranten unterbrechen: «Russland ohne Putin», skandieren sie immer wieder. Es klingt aber mühsam. Sie sind nicht so gegen die Kälte gefeit wie Artjom, dessen Bart sich in Eiskristalle verwandelt. «Noch einmal sechs Jahre Putin und wir sind ein Entwicklungsland», sagt er.

Protest wird breiter

«Das Mass ist voll», stimmt Fjodor leise zu. Auch er ist Naturwissenschafter und an der Uni beschäftigt. Er wird bei den Wahlen den Kommunisten Gennadij Sjuganow wählen. Artjom hätte für den Kandidaten der demokratischen Partei Jabloko gestimmt. Deren Spitzenmann Grigorij Jawlinski wurde aber nicht zur Wahl zugelassen. «Die Machthaber wählen sich einfach selbst», faucht er. Artjom stammt aus einem kleinen Ort im Nordwesten Russlands. Er ist kein begüterter Hauptstädter. Auch auf dem geduldigen Land kippe allmählich die Stimmung, behauptet er. Anfangs demonstrierten nur die Mittelschichten. «Ich gehöre nicht dazu, dreh dich doch mal um.» Artjom hat Recht, die Basis des Protestes wird breiter. Die Teilnehmer sind nicht mehr alle wie aus dem Ei gepellt, und das liegt nicht nur an der Kälte. Nach anderthalb Kilometern Marsch ist der Kundgebungsort erreicht, der Bolotnaja-ploschtschad, Sumpf-Platz zu Deutsch. Früher war es auch mal eine Hinrichtungsstätte nur einen Steinwurf vom Kreml entfernt. Am Rande stehen Kesselwagen mit heissem Tee. Ein Stelzengänger parodiert Wladimir Putins inzwischen geflügeltes Wort, er hätte «Russland von den Knien erhoben». Überhaupt, der Spott auf den Plakaten für Russlands einstigen Hoffnungsträger stimmt melancholisch. «Wir sind für echte Amphoren», verlangt etwa ein weiteres Plakat. Im Sommer war Putin im Schwarzen Meer getaucht und hatte in einem PR-Stunt drei vorher versenkte griechische Vasen gehoben.

«Von den USA gekauft»

Das Volk lässt sich nicht für dumm verkaufen, für wie dämlich man es auch halten mag. Kein Wort bleibt mehr unwidersprochen. Der Satiriker und Dichter Dmitri Bykow karikierte den beliebten Topos der herrschenden Elite, im Kahn doch bitte Ruhe zu bewahren. «Schaukelt nicht das Boot, die Ratte wird seekrank», stand auf seinem Transparent.

Am Ende der Kundgebung gab es «Blutgeld»: «100 Barack-Noten» verteilten Aktivisten als Entschädigung für das Erscheinen. – Laut Putin sind alle Unzufriedenen von den USA gekauft.