«Identitäre» provozieren den französischen Staat

Die rechtsextreme Splittergruppe «Generation Identitaire» mobilisiert mit spektakulären Operationen gegen Migranten. Justiz, Politik und soziale Medien finden kein Rezept dagegen.

Stefan Brändle, Paris
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Mitglieder der rechten Gruppierung demonstrieren auf dem Col de l’Echelle nahe der italienischen Grenze. (Bild: R. Lafabregue/AFP (21. April 2018))

Mitglieder der rechten Gruppierung demonstrieren auf dem Col de l’Echelle nahe der italienischen Grenze. (Bild: R. Lafabregue/AFP (21. April 2018))

Die Aktion war perfekt geplant und dank 30'000 Euro an Internetspenden ausgiebig finanziert. Ende April kletterten an die hundert meist junge Leute auf den Col de l’Echelle, einen 1762 Meter hohen Pass, sechs Kilometer von der Grenze zu Italien entfernt. Sie trugen Schneeschuhe und entrollten ein riesiges Transparent mit der Inschrift «Kein Durchgang – geht zurück in euer Herkunftsland». Zwei Miethelikopter und ein Sportflugzeug filmten den Alpaufzug und garantierten eine hohe Anklickquote im Netz.

Die «Génération Identitaire» (GI) hatte wieder einmal zugeschlagen. 2012 hatte die Gruppierung in Poitiers schon eine in Bau befindliche Moschee geentert und ein Transparent gehisst, auf dem zu lesen war: «Karl Martell hat die Araber hier 732 zurückgeschlagen.» 2014 spielten sich muskulöse Vertreter der «Identitären» in der U-Bahn von Paris und Lyon als Beschützer der Passagiere vor dem «racaille» (Abschaum) aus den Vorstädten auf. Im vergangenen Sommer sodann mieteten sie ein Schiff, um im Mittelmeer Schlauchbootpassagiere an der Landung in Lampedusa zu hindern. Die Operation war technisch ein Fiasko, medial ein Grosserfolg.

«Kaderschmiede für den Front National»

Und darum geht es den französischen Identitären, die nun auch in anderen EU-Ländern Ableger gegründet haben. Im Unterschied zu anderen Splittergruppen des rechten Untergrundes – inklusive ihrer aufgelösten Vorgängerorganisation «Identitärer Block» – treten sie unverhüllt auf und geben sich gesetzeskonform. Ihre Wortführer äussern sich in den Medien mit Namen. Der Hauptorganisator der Echelle-Operation, Damien Rieu, arbeitet zum Beispiel als Kommunikationschef von Beaucaire, einer vom Front National regierten Stadt in Okzitanien.

Die Mitgliederzahl der Gruppierung wird auf 2000 geschätzt. Gut 200 bilden den aktiven Kern. Sie treffen sich unter anderem zu Sommeruniversitäten. Diese gleichen aber eher Fight Clubs, denn dort wird auch Boxunterricht erteilt. Laut dem Rechts­extremismus-Experten Nicolas Lebourg sind die Identitären heute eine «Kaderschmiede für den Front National» (FN).

Vor fünf Jahren versagte FN-Präsidentin Marine Le Pen dem Identitären Philippe Vardon noch den Zutritt zur Partei – er war sogar ihr zu extrem. Heute sitzt er im Politbüro der Partei und zeigt sich gerne an der Seite Le Pens, die, politisch geschwächt, auf Lenker wie ihn angewiesen ist. Zugleich bleibt sie misstrauisch gegenüber diesen «rechten Trotzkisten» (so ihr Übername im FN): Deren Mitglieder bleiben sich wie in einer Geheimloge verbunden. Da aber Le Pen nach ihrer verpatzten Präsidentschaftskampagne selbst einen radikaleren Kurs fährt, verringern sich die inhaltlichen Differenzen zu den Identitären, die offen gegen Migranten, Islam und US-Globalisierung antreten; dazu sind sie für einen christlichen Traditionalismus und die «europäische Identität» – im ethischen Sinne und natürlich nicht in demjenigen der EU. Politik und soziale Medien beginnen erst, die identitäre Generation wahr- und ernst zu nehmen. Facebook blockierte ihre Seite Anfang Mai ohne jede Diskussion. Das bot GI Gelegenheit, die «Zensur» durch angeblich obskure Machtträger anzuprangern, und verschafft ihr noch mehr Zulauf über andere Kanäle wie Twitter.

Die französische Justiz geht unterdessen reichlich ungeschickt gegen die Gruppierung vor. Anfänglich befand die Staatsanwaltschaft, die Aktion auf dem Echelle-Pass sei «kein Rechtsverstoss». Das gelte auch für die Auslieferung von Migranten an die Grenzpolizei. GI-Vertreter hatten nämlich selbst posaunt, sie hätten Pass-Überquerer «ruhig und freundlich» zur Grenze zurückgeführt und der Polizei übergeben. Die Staatsanwaltschaft befand mit Verweis auf Artikel 73 des französischen Strafrechts, dass es zulässig sei, Delinquenten, die mit einer Haftstrafe rechnen müssten – was bei illegaler Grenzüberschreitung theoretisch der Fall ist – in flagranti zu stellen.

Strafverfahren eröffnet

Dieser Justizentscheid sorgt auf der Gegenseite für umso mehr Empörung, als die Staatsanwaltschaft umgekehrt gegen französische Anwohner vorgeht, die Migranten nach deren Grenzübertritt aus Italien Kost und Logis gewähren. Jetzt hat das Justizministerium in Paris aber ein Rundschreiben versandt, in dem das Verhalten der Identitären als strafbare «Aneignung einer öffentlichen Funktion» eingestuft wird. Artikel 73 komme nur zur Anwendung, wenn Delinquenten «vereinzelt», also «unorganisiert» auf frischer Tat gestellt würden. GI verstosse dagegen. Die Rückführung von Personen an die Grenze stelle deshalb, selbst wenn sie gewaltlos erfolge, ein Delikt dar, das mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden könne.

Gestützt auf diese Auslegung hat die Staatsanwaltschaft nun zwei Strafverfahren gegen die Identitären eröffnet. Der sehr politische Rechtsstreit steht damit erst am Anfang. Und er wird wohl vor allem auf der medialen Bühne ausgetragen werden.