Die Isländer waren lange Zeit Vollbeschäftigung gewohnt und stehen jetzt erstaunt vor Massenarbeitslosigkeit. Ihrem Unmut darüber machen sie in heftigen Demonstrationen vor dem Parlament Luft. Ungewohnt in Reykjavik: Die Polizei setzt Tränengas ein.
stockholm. Der Zusammenbruch des für Island essenziellen Finanzsektors im Herbst und der drohende Staatsbankrott führt immer mehr Isländer zu immer gewalttätigeren Protestkundgebungen vor das Parlament in der Hauptstadt Reykjavik. Am Dienstag wurde das Gebäude bis spät in die Nacht belagert. Die Polizei konnte die rund 1000 Teilnehmer zählende Kundgebung erst um 3 Uhr morgens mit der für Island ungewöhnlichen Anwendung von Tränengas auflösen. Vor der isländischen Volksvertretung hatten Demonstranten zahlreiche kleinere Feuer entzündet, was als einer der Gründe dafür gilt, dass die Situation eskalierte.
Am Montag hatten sich zur Eröffnung des Parlamentsjahres sogar doppelt so viele Leute vor dem Gebäude versammelt. Das war die grösste Demonstration seit dem umstrittenen Nato-Beitritt des Inselstaates im Nordatlantik 1949.
Die Demonstranten geben der mächtigen und das Land seit der Selbständigkeit 1944 prägenden konservativen Unabhängigkeitspartei und ihrem Ministerpräsidenten Geir Haarde die Schuld für die Krise, die das noch vor kurzem wohlhabende Island besonders hart getroffen hat. Die Demonstranten fordern den Rücktritt des Regierungschefs und Neuwahlen.
Es dauerte relativ lange, bis die nun erstmals in ihrer Vollbeschäftigungs-Geschichte vor der Massenarbeitslosigkeit stehenden Isländer nach dem Zusammenbruch der durch Kredite künstlich aufgepumpten Wirtschaft auf die Strasse gingen. Doch nun halten die Proteste seit Tagen an.
Eine wichtige Stimme der Protestbewegung ist der Zeitungskommentator «Doktor Gunni». Er kritisiert, wie schonungsvoll mit den Entscheidungsträgern umgegangen wird. «<Es hilft jetzt in der Krise nichts, die Schuldigen zu suchen>, sagen die Schuldigen und meinen, man müsse jetzt vor allem zusammenhalten», schreibt er in einem seiner Kommentare und fährt fort: «Meine Frau sagt, dass Kinder ihr verwüstetes Kinderzimmer selber aufräumen müssen. Aber das ist kein guter Vergleich, finde ich. Wenn jemand betrunken in einen Strassengraben fährt, sollte nicht dieselbe Person versuchen, den Wagen wieder auf die Strasse zu heben.»
Trotz der umfangreichen Proteste in Reykjavik und der für alle Bevölkerungsgruppen im alltäglichen Leben deutlich spürbaren Wirtschaftskrise, glauben viele Isländer, dass Neuwahlen und die Einarbeitung einer neuen Regierung das Chaos nur verschlimmern würden. Das stärkt Ministerpräsident Geir Haarde trotz grossem Popularitätsverlust noch immer ausreichend den Rücken. Auch der sozialdemokratische Koalitionspartner scheint ihm deshalb noch die Treue zu halten.