900 Millionen Inder waren in den letzten Wochen zur Wahl aufgerufen. Eine zentrale Aufgabe der neuen Regierung ist der Kampf gegen die Kinderarbeit. Wie dringend dieser ist, zeigt der Besuch in einem Heim für befreite Kindersklaven.
Imtiyaz war sieben, als der fremde Mann in sein Dorf kam, seinen Eltern Geld gab und ihn mitnahm. Zuerst war alles gut. Da war eine Wohnung in der grossen Stadt Delhi. In ihr lebten viele Kinder. Es gab zu essen und einen Fernseher. Dann aber kam ein anderer Mann und nahm ihn mit in die Fabrik.
Er musste Muster auf Kleidungsstücke nähen, von frühmorgens bis spätnachts. Wenn er sich mit den Nadeln in die kleinen Hände stach und sein Blut auf die Kleidungsstücke tropfte, dann schlug ihn der Mann. Wenn er weinte, auch. Also lernte er, nicht zu weinen und sich nicht zu stechen. Einmal, erzählt Imtiyaz, sei er bei der Arbeit eingeschlafen. Da habe ihm der Mann mit einer Schere die Augenlider zerschnitten und ihm gesagt: Wenn du noch einmal einschläfst bei der Arbeit, dann steche ich dir die Augen aus.
Etwa 20 Kinder waren in dem Raum, in dem Imtiyaz arbeitete. Einmal am Tag gab’s abgestandenen Reis zu essen, und in der Nacht konnten sie sich ein paar Stunden auf eine dünne Matte legen. Einmal pro Woche durfte Imtiyaz seine Eltern anrufen. Der Mann hörte genau mit, was er am Telefon erzählte. Imtiyaz log seine Eltern an und sagte, es gehe ihm gut. In Wirklichkeit aber ging es ihm schlecht. So schlecht, dass er noch heute nur leise und mit gesenktem Blick darüber spricht.
Inzwischen ist Imtiyaz 16. Die Wunden über seinen Augen sind verheilt, der Horror seiner Kindheit ist vorbei. Er wurde nach zwei Jahren aus der Textilfabrik in Delhi befreit.
Seine Befreier waren Aktivisten der Organisation Bachpan Bachao Andolan (auf Deutsch: Bewegung zur Rettung der Kindheit), die seit ihrer Gründung im Jahr 1981 weltweit über 87'000 Kinder aus der Sklaverei befreit hat. In Virat Nagar, einem kleinen Dorf im nordindischen Hinterland, hat die Bewegung ein Zentrum für befreite Kindersklaven eröffnet.
Bal Ashram heisst das 13 Hektaren grosse Gelände. Es wirkt wie eine Parallelwelt inmitten des mausarmen Bundesstaats Rajasthan, in dem Kinderarbeit, häusliche Gewalt und Kinderehen so weit verbreitet sind wie kaum irgendwo sonst in Indien. Statt der mageren Kühe, die draussen auf den Staubstrassen stehen, grasen in Bal Ashram schnaubende Auerochsen. Statt der zerfetzten Leibchen, die den Bauern auf den Feldern von den Körpern hängen, tragen die Kinder hier blaue Trainingsanzüge und grüssen Besucher in höflichem Englisch.
Knapp 70 Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 18 Jahren leben derzeit in dem Zentrum. Sie alle wurden aus Textilfabriken, Ziegelbrennereien oder Restaurantküchen befreit, wo sie teils jahrelang als Sklaven arbeiten mussten. Kinder, die nach ihrer Befreiung nicht zurück in ihre Familien gehen konnten, weil ihre Eltern nicht ausfindig gemacht werden konnten, landen hier und erhalten eine Schulbildung und ein kleines bisschen Würde. Sie dürfen bleiben, bis sie 18 sind.
Knapp 3000 Kinder hat das Zentrum seit seiner Eröffnung 1998 schon aufgenommen. Das sind knapp 3000 kleine Erfolgsgeschichten im Kampf gegen die Kinderarbeit. Doch wenn man sich das Ausmass des Problems vor Augen führt, dann ist auch Bal Ashram nichts als ein Tropfen auf den heissen Stein.
Weltweit, schätzt die UNO, werden 152 Millionen Kinder zwischen 5 und 17 Jahren zur Arbeit gezwungen. Knapp sechs Millionen davon leben als faktische Sklaven, ohne Lohn, ohne Kontakt zu ihren Familien und ohne ausreichend Nahrung. Allein in Indien verrichten über zehn Millionen Minderjährige Zwangsarbeit – mehr als in jedem anderen Land der Welt.
Seit 2016 ist Kinderarbeit in dem riesigen südasiatischen Land zwar offiziell verboten. Viel verändert hat das aber nicht an der Situation – im Gegenteil. Die Regierung des nun wohl wiedergewählten Premierministers Narendra Modi hat das Budget für den Kampf gegen die Kinderarbeit für das laufende Jahr von 17 auf 14 Millionen Franken gekürzt.
Kailash Satyarthi lässt sich von der Knausrigkeit der indischen Politik nicht den Mut nehmen. Der 64-Jährige sitzt im Schneidersitz unter einem Baum am Rande des Bal-Ashram-Zentrums. Ein Angestellter bringt Tee, ein Ventilator kämpft gegen die Abendschwüle an, Satyarthi erkundigt sich, ob man das scharfe Essen der Gegend bislang gut vertragen habe.
Nach ein paar netten Floskeln wird der grossgewachsene Mann mit dem grau melierten Bart ernst. Satyarthi hat 1981 seinen Job als Ingenieur an den Nagel gehängt und sich dem Kampf gegen die Kinderarbeit verschrieben. Gemeinsam mit seiner Frau Sumedha hat er die Bewegung zur Rettung der Kindheit und das Bal-Ashram-Zentrum gegründet, hat weltweite Märsche gegen die Versklavung von Minderjährigen organisiert, hat bei Hunderten Befreiungsaktionen in teils gefährlichen Gebieten des Landes sein Leben riskiert und ist 2014 für seine Bemühungen im Kampf gegen die Kinderarbeit mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden.
2018 ist ein Film über ihn erschienen: «The Price of Free» heisst er. Auf Youtube ist die 90-minütige Dokumentation schon über sieben Millionen Mal angeklickt worden. Die erste Szene zeigt, wie Kailash und seine rund 200 Mitarbeiter bei ihren Aktionen vorgehen. Gemeinsam mit lokalen Polizisten rennen sie durch das Gassengewirr eines Businessdistrikts in Neu Delhi, stürmen ein halb zerfallenes Haus, brechen verschlossene Türen auf, rennen durch dunkle Gänge und finden unter hastig hingeworfenen Jutesäcken mehrere sichtlich verängstigte Kinder. Sie nehmen sie mit in ihr Auffangzentrum und lassen den Betreiber der illegalen Fabrik verhaften. 591 solche Fabriken wurden dank Satyarthis Team bis heute geschlossen, 737 Personen sitzen wegen ihrer Verwicklung in das Geschäft mit den Kindersklaven dank dem Einsatz seines Teams hinter Gittern.
Wie gefährlich Satyarthis Arbeit zuweilen ist, zeigte ein Vorfall im Jahr 2004. Der spätere Nobelpreisträger wollte eine Gruppe kleiner Mädchen aus den Fängen eines Schaustellers befreien, der die Kinder als Sexsklavinnen hielt. Als Satyarthi vor dessen Showzelt auftauchte, ging der Mann mit seinen Mitarbeitern auf Sathyarti los und prügelte mit Stangen auf ihn ein. Satyarthi brach sich ein Bein und musste ohne die gefangenen Mädchen die Flucht ergreifen. Er trat in den Hungerstreik und machte medienwirksam Druck auf die Behörden. Nach sechs Tagen war der Schausteller verhaftet und die Mädchen befreit.
Satyarthi liebt diese Erfolgsgeschichten. Für einen kurzen Moment täuschen sie über die traurige Realität hinweg: Noch immer werden in Indien jeden Tag durchschnittlich 150 Kinder von Schleppern aus ihren Dörfern entführt. Die Eltern werden mit ein paar Rupien und leeren Versprechungen zurückgelassen, die Kinder landen in Fabriken, Restaurants oder – im schlimmsten Fall – in illegalen Bordellen.
Dieses Schicksal drohte auch dem siebenjährigen Lakhan. Heute feiert er seinen Geburtstag. Ob es wirklich sein Geburtstag ist, das weiss der kleine Junge mit den grossen schwarzen Augen nicht. Heute aber ist es genau ein Jahr her, seit er von Satyarthis Team aus den Fängen von Schleppern an der nepalesisch-indischen Grenze befreit und hierhin ins Zentrum Bal Ashram gebracht worden ist. Sein Ankunftstag hier im Zentrum, das ist für Lakhan sein Geburtstag. Und für das Fest haben sich alle Bal Ahsram-Bewohner auf dem kleinen Platz unter den grossen Bäumen versammelt. Sie geben sich die Hände, singen ein Lied, stecken sich Blumen in die schwarzen Haare. Lakhan tanzt mit den anderen Kindern im Kreis, verteilt Kuchen, zieht sein neues blaues T-Shirt über und jauchzt laut heraus.
Nur mit riesigem Glück ist er vor einem Jahr der Sklaverei entkommen. Doch Lakhan hat für seine Freiheit einen hohen Preis bezahlt. Weil er nicht wusste, wo sein Heimatdorf lag, und auch nicht wusste, wie seine Eltern mit Nachnamen hiessen, konnten die Behörden seine Familie nicht ausfindig machen. Lakhan weiss noch immer nicht, ob er jemals nach Hause zurückkehren kann. Er weiss nur, dass er heute Geburtstag feiert und dass alles andere – mindestens für diesen Moment – keine Rolle spielt.
Hinweis: Der Reiseveranstalter Travelhouse hat die Recherche vor Ort ermöglicht. Er bietet Besuche im Zentrum Bal Ashram an.
Der indische Premierminister Narendra Modi hat seine Partei zur Siegerin der Parlamentswahlen erklärt. «Zusammen wachsen wir, zusammen gedeihen wir, zusammen bauen wir ein starkes und einbindendes Indien – Indien siegt erneut», schrieb Modi am Donnerstag auf Twitter, nachdem erste Auszählungsergebnisse auf einen Erdrutschsieg seiner hindu-nationalistischen BJP hindeuteten. Für Modis Herausforderer von der oppositionellen Kongresspartei, Rahul Gandhi, dürfte sich die Hoffnung auf ein Comeback der Gandhi-Dynastie damit zerschlagen haben.
Nach Auszählung von rund der Hälfte der 600 Millionen abgegebenen Stimmen kommt Modis Bharatiya Janata Party auf etwa 300 der 543 Parlamentssitze BJP-Parteichef Amit Shah erklärte aut Twitter, das Ergebnis sei «Indiens Entscheidung gegen die Propaganda, Lügen, persönlichen Angriffe und unbegründete Politik der Opposition.» Bestätigt sich das Ergebnis, würde die BJP ihr Wahlergebnis aus dem Jahr 2014 noch übertreffen. Im Unterhaus dürften die BJP und ihre Verbündeten dann mit knapp 50 Sitzen mehr über eine komfortable Mehrheit verfügen. Im Oberhaus hingegen wird ihnen die Mehrheit fehlen.
Für die oppositionelle Kongress-Partei bedeutet das sich abzeichnende Ergebnis eine herbe Enttäuschung: Den vorläufigen Ergebnissen der Wahlkommission zufolge kommt die Partei nur auf 49 Sitze. Parteichef Gandhi musste eine doppelte Niederlage einstecken. Er verlor den lange von seiner Familie gehaltenen Wahlkreis an die Opposition.
Die Wahlen in der grössten Demokratie der Welt hatten sich über mehrere Wochen erstreckt. Am Sonntag war die Mammutwahl nach sechs Wochen zu Ende gegangen. An der Wahl beteiligten sich rund 65 Prozent der 900 Millionen Stimmberechtigten. Experten schätzen die Kosten auf umgerechnet mehr als sieben Milliarden Franken. Wegen der erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen und der gewaltigen Grösse des Landes mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern fand die Wahl in sieben Phasen statt. (sda)