Gefahr trotz Abhängigkeit

Zur Sache

Jürgen Gottschlich
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Wer sich derzeit den Schlagabtausch zwischen deutschen und türkischen Politikern anhört, muss meinen, beide Länder stünden kurz davor, sich gegenseitig den Krieg zu erklären. Doch das täuscht. Auch wenn es zwischen beiden Regierungen ein tiefes Misstrauen und persönliche Abneigung gibt – das meiste von dem, was gesagt wird, ist vor allem an das eigene Publikum gerichtet.

Türkische Regierungsmitglieder hoffen, bei ihren Wählern im bevorstehenden Referendum über die neue Präsidialverfassung punkten zu können. Auch in Deutschland hat der Wahlkampf bereits begonnen. Alle wissen, dass die Mehrheit der Deutschen den türkischen Präsidenten Erdogan von ganzem Herzen ablehnt. Doch in der Realität sind beide Länder aufeinander angewiesen. Wirtschaftlich braucht die Türkei Deutschland und Europa so dringend wie lange nicht, und die deutsche Kanzlerin will auf keinen Fall riskieren, dass im Wahljahr 2017 wieder Hunderttausende Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa strömen.

Doch beide Seiten müssen aufpassen, dass der propagandistische Schlagabtausch sich nicht verselbständigt und eine echte Krise entsteht. Mit der Verhaftung des deutschen Korrespondenten Deniz Yücel hat Erdogan eine rote Linie überschritten. Wenn Yücel nicht bald freikommt, muss Merkel schärfer reagieren, will sie nicht ihre Wahlchancen beeinträchtigen. Eine weitere Provokation dieses Kalibers bliebe nicht ohne ernsthafte Konsequenzen. Erdogan ist bereit, für den Erfolg des Referendums alles zu riskieren. Er könnte dabei das Verhältnis zu Deutschland und Europa in Trümmer legen. Seite 9