Sechs Jahre sind seit der Atomkatastrophe vergangen. Jetzt sollen Flüchtlinge wieder in die betroffenen Gebiete zurückkehren und ohne staatliche Unterstützung auskommen – das macht viele wütend.
Angela Köhler, Tokio
Kann man die Fukushima-Katastrophe je vergessen? Am 11. März 2011 bebte die Erde im Nordosten Japans so heftig wie nie zuvor. Wenig später rollte eine Springflut biblischen Ausmasses auf die Pazifikküste zu und riss beinahe alles mit sich, was irgendwie beweglich war, Häuser, Dämme, Schiffe, Autos. Über 18000 Menschen verloren bei dieser Katastrophe ihr Leben, weit mehr noch ihre Zukunft. Wie durch ein Wunder forderte der vom Tsunami fast völlig zerstörte Atomkomplex Fukushima Daiichi keine zusätzlichen Opfer.
Kann man solche Ereignisse wirklich verdrängen? Offenbar, denn sonst würde der Internetkonzern Yahoo Japan wohl kaum so viel Aufmerksamkeit erzielen, wie dieser Tage in Tokios Prachtmeile Ginza. An der Fassade des Sony-Hochhauses prangt ein gewaltiges Banner, auf dem riesige Schriftzeichen mahnen: Die Katastrophe kann sich jederzeit wiederholen und an jedem Ort. Beinahe keinem der Millionen Tokioter war wohl vor dieser Visualisierung der eigenen Gefahr bewusst, was in 16,7 Meter Bodenhöhe mit roter Farbe markiert ist. Auf dieser roten Linie steht der Satz: Exakt auf dieser Höhe wäre der Tsunami auf die Ginza geprallt, wenn sich die Jahrhundertkatastrophe in der Bucht von Tokio ereignet hätte. Stattdessen traf die Welle das kleine Städtchen Ofunato in der Präfektur Iwate.
Weil der tödliche Tsunami das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi zerstörte und Kernschmelzen auslöste, haben die früheren Nachbarn des AKW auch weiter Angst vor Verstrahlung. Mit jeder neuen verstörenden Nachricht über hohe Radioaktivität und Pannen beim Energiekonzern Tepco kommt das Trauma erneut in ihnen auf.
Jetzt sollen die meisten zurückkehren in die alte Heimat. In diesem Monat endet die staatliche Unterstützung für alle Betroffenen, deren Gebiete jetzt als «sicher» freigegeben wurden. Man nennt sie jetzt «freiwillige Geflüchtete», in Abgrenzung zu jenen, deren Wohnorte bis heute wegen der hohen Radioaktivität nicht betreten werden sollen. Zu diesen «Freiwilligen» zählen sehr viele Mütter, die mit ihren Kindern geflohen sind und deren Ehemänner in der Fukushima-Region geblieben sind, weil sie nur dort Arbeit finden.
Rita Mashiko ist eine von ihnen. Die 46-jährige Frau floh mit ihrer Tochter zwei Monate nach dem Ausbruch der nuklearen Krise aus der Stadt Miharu nach Tokio. Nur der Mann blieb in ihrem Haus. Wie sie hatten viele Mütter reagiert, sagt Frau Mashiko. Es sei der Instinkt als Mutter, Gefahren zu vermeiden. «Vielleicht passiert ja nichts, aber wenn, dann hätte ich mir das niemals verzeihen können.» Bislang übernimmt die Präfekturregierung die Kosten für die Miete in der teuren Metropole.
Dann kam per Amtspost die niederschmetternde Mitteilung. Die Behörden verkündeten, man werde die Subventionen nicht weiter bezahlen. Begründet wird diese weitreichende Streichung damit, dass die Dekontaminierung in der Präfektur fortgeschritten und die Lebensmittelsicherheit erreicht worden sei.
Die Zahl der Flüchtlinge belief sich zum Höhepunkt 2012 auf 164865 Menschen. Mehr als 12000 Familien sollen heute als «Freiwillige» gelten. Nur für die Orte Futaba und Okuma, in denen das Desaster-AKW Fukushima-Daiichi steht, sind weiterhin eingestuft als «Zonen der schwierigen Rückkehr», wie es in der japanischen Sprache vorsichtig umschrieben wird. In diesen Gebieten liegt die Strahlung im Jahresdurchschnitt über 50 Millisievert – also 50 Mal höher als die langfristigen Ziele der Regierung vorsehen.
Rika Mashiko fühlt sich ungerecht behandelt. Mütter, die ihre Kinder nach dem Atomdesaster aus Gefahrenzonen gebracht hätten, sollten in jedem Fall finanziell unterstützt werden. Jetzt sei sie wie viele Gleichgesinnte einfach wütend, «Opfer der staatlichen Nuklearpolitik» zu sein. Viele dieser «freiwilligen Flüchtlinge» haben nicht das Geld, doppelte Mieten zu zahlen, die in Japan generell hoch sind. Für sie war das bisherige Programm ein Rettungsanker. Um die betroffenen Familien weiter zu unterstützen, formieren sich private Spender. Der ehemalige Tokioter Kinderarzt Makoto Yamada hat eine Stiftung gegründet, in die er selbst umgerechnet 2500 Euro eingezahlt hat. Zehn Müttern kann damit erst einmal geholfen werden.
Der 75-jährige Atomkraftgegner unterstützt die Betroffenen seit dem Unglücksjahr 2011. Der Mediziner engagiert sich generell für diese «freiwilligen Flüchtlinge», die von vielen Landsleuten als selbstsüchtig und überängstlich abgetan werden. Besonders am Herzen liegen ihm die Kinder, die wegen ihrer Herkunft als «atomverseucht» gemobbt werden.
Die Regierung versucht das Gefühl zu vermitteln, dieses Desaster sei überstanden. Sie wolle die Schäden radioaktiver Verstrahlung trivialisieren und signalisiere damit, dass Evakuierung nicht mehr nötig ist, erklärt Dr. Yamada. «Wenn wir fordern, Fukushima sollte nie vergessen werden, dürfen wir auch den Terror der potenziellen Radioaktivität nie vergessen und im Bewusstsein behalten, dass wir nicht in Sicherheit leben können, solange Atomkraftwerke in der Welt existieren.»