Regierung und Gesellschaft in Bulgarien erhoffen sich, während der EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2018 das Image als ärmstes EU-Mitgliedsland aufpolieren zu können. Politisch hat die Integration des Westbalkans in die EU Priorität.
Frank Stier, Sofia
«Einigkeit macht stark»: Diese Maxime prangt über dem Portal von Bulgariens Volksversammlung. Angesichts der Konfliktbereitschaft der politischen Elite, die in den vergangenen fünf Jahren zu insgesamt sieben regulären und kommissarischen Regierungen geführt hat, mag dies ironisch erscheinen. Doch nun steht sie als Motto auch über der sechsmonatigen EU-Ratspräsidentschaft, die Bulgarien per 1. Januar übernommen hat.
Viele bulgarische Politiker und Bürger verknüpfen mit der ersten bulgarischen EU-Ratspräsidentschaft hohe Erwartungen; vergleichbar mit jenen am Vorabend zum EU-Beitritt des Landes zum Januar 2007. Damals hofften viele, die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der reichen europäischen Staaten werde ihr Land aus dem Teufelskreis von Rückständigkeit, Rechtlosigkeit und Armut befreien und endlich zu einem «normalen modernen europäischen Staat» machen.
Inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt, hat sich die Erkenntnis verbreitet, dass der Beitritt zu einer prosperierenden Staatengemeinschaft aus einem armen Land kein reiches macht. Dennoch hegen viele Bulgaren nun ähnlich grosse Hoffnungen an die EU-Ratspräsidentschaft. Sie soll ihr Land vom Image des ärmsten und korruptesten EU-Landes befreien und auf der internationalen Bühne als Akteur profilieren, der die krisengeschüttelte EU auf einen positiven Entwicklungspfad zu führen vermag. Wie dieser idealerweise aussehen soll, skizzieren die erklärten Prioritäten der bulgarischen EU-Ratspräsidentschaft. Sie lauten: «Zukunft für Europa und seine jungen Leute», «Sicherheit und Stabilität», «Europäische Integration der Westbalkanländer» und «Digitalisierung». Bulgariens konservativer Dauer-Ministerpräsident Boiko Borissov hat bereits im vergangenen Jahr sein politisches Profil diesen Ambitionen angepasst.
Präsentierte Borissov sich in seinen beiden ersten Amtszeiten vor allem als grosszügiger Landesvater bei der Einweihung von Infrastrukturprojekten, so entwickelte er in den vergangenen Monaten eine ausgeprägte Reisediplomatie in Südosteuropa. Dabei beschwor er seine serbischen, mazedonischen und griechischen Amtskollegen, historische Animositäten hinter sich zu lassen, um die EU-Integration der Balkanhalbinsel voranzutreiben.
Beim östlichen Nachbarn Türkei hat Bulgariens EU-Ratspräsidentschaft aber bereits vor ihrem Beginn Kritik erregt. Bulgarien ignoriere die den EU-Beitritt anstrebende Türkei, indem sie sie nicht zu dem für Mitte Mai 2017 angesetzten Gipfeltreffen zwischen der EU und den Westbalkanländern nach Sofia eingeladen habe, schrieb die türkische Tageszeitung «Hürriyet» in einem nach Weihnachten erschienenen Artikel. «Im Prozess der EU-Erweiterung den Westbalkan von der Türkei zu trennen, ist ein sich in Brüssel in letzter Zeit verfestigendes Verhalten», klagte «Hürriyet».
Im eigenen Land verweigert sich die oppositionelle Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) Borissovs Bitte um ein Stillhalteabkommen für die kommenden Monate, damit sich Bulgarien seinen ausländischen Gästen im besten Licht präsentieren könne. Unter dem Vorwurf mangelnder Erfolge in der Korruptionsbekämpfung hat die BSP für den 17. Januar 2018 ein Misstrauensvotum gegen Borissovs Koalitionsregierung aus seiner Partei Bürger für eine Europäische Entwicklung (Gerb) und den nationalistischen Vereinigten Patrioten (VP) angesetzt.
Im kommenden Sommer dürften die Bulgaren – wie viele ihrer Vorgänger zum Abschluss ihrer EU-Ratspräsidentschaft – die Bilanz ziehen, dass der EU-Ratsvorsitz eher protokollarische Pflichten zur Organisation des politischen Funktionierens der EU mit sich bringt als die Chance zur Umsetzung erklärter Prioritäten. Überkommene Megaprobleme wie Brexit, Polen und Katalonien werden Bulgariens gute Vorsätze vermutlich überschatten.
Dennoch werden die Bulgaren es geniessen, dieses Jahr eine grössere und etwas andere Beachtung durch ihre europäischen Partner zu finden, als dies im bisherigen Jahrzehnt ihrer EU-Mitgliedschaft der Fall war.