Vor 70 Jahren landeten die Alliierten in der Normandie – damit startete die «Operation Overlord», die grösste jemals zusammengezogene Luft- und Seestreitmacht der Kriegsgeschichte. Sie leitete die Befreiung Westeuropas ein – und wird heute als Magnet für Touristen ausgenutzt.
Die Fahnen Grossbritanniens, der USA, Kanadas und Frankreichs schmücken die Markise des Souvenirladens «Overlord» in Arromanches, der nach dem Decknamen für die Landung der Alliierten in der Normandie benannt ist. Die Markise wirbt mit «Tee-Shirts», «Confiserie», «Calvados». Und mit «Librairie specialisée militaria», also einer auf Militaria spezialisierten Buchhandlung. Wer vor dem Geschäft «Overlord» steht, muss sich nur umdrehen, um zu sehen, wie unzerstörbar die Ruinen des Zweiten Weltkriegs noch immer sind.
Arromanches liegt an der Côte de Nacre, der Perlmuttküste, die als Landungsküste der Alliierten am 6. Juni 1944 in die Geschichte einging. Hier, am sogenannten «Gold Beach», landete die 50. Britische Infanterie Division zwischen 7.25 und 7.45 Uhr. Eine Stunde vorher hatten die Schlachtschiffe, Kreuzer und Zerstörer feste Ziele am Strand beschossen und eine halbe Stunde vorher amerikanische und britische Flugzeuge ihre Bomben auf deutsche Verteidigungsstellungen abgeworfen.
Bereits um 10 Uhr war die gesamte Division auf dem «Gold Beach», inklusive Artillerie und Versorgung. Ein deutscher Gegenangriff fand gar nicht erst statt, das «eingesetzte Ostbataillon war nach den ersten Bombardierungen einfach davongelaufen oder hatte sich ergeben», schreibt Historiker Peter Lieb in seinem Buch «Unternehmen Overlord. Die Invasion in der Normandie und die Befreiung Westeuropas», dem aktuellsten Werk zum Thema.
Bis heute kämpft Arromanches mit Überbleibseln der Invasion: Vor dem malerischen Strand wurden halbmondförmig 500 000 Tonnen Beton in Form von 115 Senkkästen vertäut und ein künstlicher Hafen angelegt, der bereits am 7. Juni 1944 den Betrieb aufnehmen konnte. Die Betonkästen sind so massiv, dass noch immer 30 davon vor der Küste liegen und besonders bei Ebbe mächtig über dem Sand thronen.
Badetourismus entwickelt sich unter diesen Umständen nicht (vom berühmt-berüchtigten normannischen Wetter ganz abgesehen). Und so hat sich in der Region ein Geschäft mit der Landung ergeben, von dem der Souvenirladen «Overlord» nur ein kleines Zeichen ist. Der D-Day ist überall, sogar auf Bonbonschachteln und Mousepads. In Arromanches steht das Museum du Débarquement, das Landungsmuseum. Den Hang hinauf wirbt ein 360°-Kino mit einem Film auf neun Leinwänden, der – zwischen Pathos, Hollywood-Ästhetik und Schwarzweiss-Malerei – die Landung in Bilder zu packen versucht. Der ganzen Küste entlang gibt es 39 Museen, eines für Panzer, eines für Fallschirmspringer, eines für die Luftwaffe, eines für Radar, eines für den Juni 1944, eines für den August 1944. Dazu Ausstellungen an den fünf Landungsstränden, zu verschiedenen Schlachten und einzelnen Einheiten. Zu buchen in variabel kombinierbaren Paketen beim «Mémorial» in Caen.
Das Museum «Mémorial» besuchen jährlich 630 000 Besucher, ein Drittel davon Schüler. Ihnen wird eine beeindruckende Schau geboten, die schon in der Empfangshalle den Bogen schlägt von einem Flieger der britischen Luftwaffe bis zum Fall der Berliner Mauer 1989, den die letzte Abteilung «Die Welt nach 1945» behandelt. Vor allem untersucht das Museum, von einfachen Erklärungen weit entfernt, die politischen Verhältnisse zwischen den beiden Weltkriegen mit genauem Blick für die Ursachen des Erfolges der Nationalsozialisten in Deutschland. In den Räumen zur Landung der Alliierten, gesondert dargestellt, staunt man wieder über die logistische Meisterleistung der Invasion – zumal der Plan umgesetzt wurde, ohne dass die Deutschen es merkten.
1213 Kriegsschiffe, darunter sieben Schlachtschiffe und 35 Kreuzer, sowie 4124 Landungs- und Hilfsboote aller Art umfasste allein die Marine, die an den fünf Küsten landete und grossteils von der Royal Navy bestritten wurde. «Ein letztes Mal in der Weltgeschichte zeigte sie, dass Britannia wahrlich über die Wellen herrschte», kommentiert Historiker Lieb. Die materielle und personelle Übermacht der Alliierten ist immens: Sie hatten 20mal so viele Panzer und 25mal so viele Kampfflugzeuge wie ihr Gegner. Zwar waren 1,5 Millionen deutsche Soldaten, davon 100 000 von der Waffen-SS, im Westen stationiert, aber an den fünf Stränden waren die Alliierten an Personal und Material haushoch überlegen. Adolf Hitler glaubte bis zum Schluss, die Invasion werde am Pas-de-Calais stattfinden – umfangreiche Täuschungsmanöver der Alliierten bestärkten ihn darin, seine Kräfte dort zu sammeln. Historiker schätzen daher, dass den 155 000 alliierten Soldaten lediglich ungefähr 1500 deutsche Soldaten gegenüberstanden.
Die Briten hatten Amphibienfahrzeuge erdacht, die «Hobart's Funnies», benannt nach General Percy Hobart. Die sollten ihnen im Moment der Landung helfen, Minen zu räumen oder Bunker zu beschiessen. Am «Omaha Beach» vor Colleville-sur-Mer zeigte sich blutig, wie falsch es von den Amerikanern war, nichts Ähnliches zu besitzen. Denn nicht überall lief es so glatt wie am «Gold Beach»: Allein am Omaha Beach, deshalb «Bloody Omaha» genannt, starben 3000 Amerikaner, andere Schätzungen sprechen von 4200 Toten. Oberhalb des Strandes liegt heute ein Friedhof, auf dem unter 9387 schneeweissen Marmorkreuzen und -Davidsternen amerikanische Soldaten ruhen.
Nur wenige Schritte sind es vom Friedhof ans Meer. Der Blick schnürt einem noch heute den Hals zu: Tief unten schlagen die Wellen an den breiten Strand, ein schmaler Pfad schlängelt sich in Haarnadelkurven hinab. Von oben konnten die deutschen Soldaten die landenden Amerikaner trotz schlechten Wetters perfekt ausmachen.
Die amerikanischen Fliegerpiloten hingegen fürchteten wegen der Wolken ihre eigenen Leute zu treffen und warfen ihre Bomben weit hinter den deutschen Stellungen ab. 177 Flugzeuge drehten sogar ab und kehrten nach England zurück. Auch auf dem Wasser spürten die Alliierten die Folgen der Entscheidung, trotz des Regens und des Sturms die Invasion zu starten: In der starken Strömung erreichte kaum ein Landungsboot das Ziel. «Das Chaos war perfekt, und das deutsche Abwehrfeuer vernichtete einige Kompanien fast vollständig», schreibt Lieb.
Demgegenüber stellt der Historiker die Reaktion der Deutschen unter das Motto «Pleiten, Pech und Pannen». Ungeklärte Hierarchien, geschwächte Soldaten, von denen viele bereits an der Ostfront gekämpft hatten, Befehlshaber, die immer noch glaubten, das Manöver sei nur Täuschung für eine Landung am Pas-de-Calais. Hitler selbst, der die Landung verschlief, weil es keiner wagte, ihn zu wecken, und sein Umfeld die Lage falsch einschätzte. Und Oberbefehlshaber Erwin Rommel feierte in Deutschland den Geburtstag seiner Frau.
Am Ende des 6. Juni war der von den Deutschen errichtete «Atlantikwall» auf breiter Front durchbrochen und die zweite Front eröffnet worden. 10 000 alliierte Soldaten waren dabei ums Leben gekommen.
Über zwei Hafenanlagen, eine davon vor Arromanches am «Gold Beach», konnte neues Material und ausgeruhte Truppen angelandet werden. Doch der Kampf um das Hinterland hatte gerade erst begonnen: An keinem der Frontabschnitte hatten die Alliierten ihr Tagesziel erreicht.
Am 15. Juli wurde die Schlacht um Caen entschieden, am 25. August fiel Paris, – damit war die Schlacht um die Normandie beendet, auch wenn es noch neun blutige Monate dauern sollte, bis das nationalsozialistische Reich zusammenbrach. Die Alliierten hatten die Hauptstadt erobert, aber de Gaulle spielte ihre Bedeutung bewusst herunter und stilisierte sich und das französische Volk zum Befreier von Paris. Mythen um die Invasion in der Normandie gab es also schon 1945 – und 2014 immer noch. Auch die «Librairie specialisée militaria» im «Overlord» in Arromanches lebt davon.
Der Text entstand mit der Unterstützung von Frantour/Railtour Suisse. Programm zu den Feiern: www.the70th-normandy.com. Lektüretip: Peter Lieb: Unternehmen Overlord. Die Invasion in der Normandie und die Befreiung Westeuropas, C. H. Beck 2014, 254 S., Fr. 24.90. Sehr guter Überblick