Der lange Schatten aus Syrien

Gestern begann der Prozess gegen die mutmasslichen Mörder des ehemaligen Premierministers Rafik Hariri. Viele Libanesen halten den Zeitpunkt des Tribunals wegen des Syrien-Krieges für «unglücklich».

Michael Wrase/Beirut
Drucken
Die Richter in Den Haag beim Prozessauftakt – im Vordergrund ein Modell, das den Anschlag auf Hariri am 14. Februar 2005 in Beirut darstellt. (Bild: ap/Toussaint Kluiters)

Die Richter in Den Haag beim Prozessauftakt – im Vordergrund ein Modell, das den Anschlag auf Hariri am 14. Februar 2005 in Beirut darstellt. (Bild: ap/Toussaint Kluiters)

Fast neun Jahre mussten die Anhänger des ermordeten Rafik Hariri warten, bis der kanadische Chefankläger Norman Farrell gestern in Den Haag versprach, endlich «die Wahrheit zu finden». Es war 12.55 Uhr, als am 14. Februar 2005 eine in einem Lastwagen versteckte Bombe den langjährigen Ministerpräsidenten in Stücke zerriss. Der Anschlag am Valentinstag «war ein bewusster und geplanter Terrorakt», sagte Farrell, der in den kommenden Monaten über 500 Zeugen vernehmen wird.

Die Anklagebank im Haager Vorort Leidschendam, wo bereits gegen die Verantwortlichen der Balkan-Kriege verhandelt wurde, bleibt leer. Das Gericht will «in der Annahme» verhandeln, dass die fünf mutmasslichen, flüchtigen Attentäter – Funktionäre der schiitischen Hisbollah – «anwesend sind und sich für unschuldig halten». Dass sie schuldig sind, steht für die «Zukunftsbewegung» des ermordeten Hariri bereits vor Prozessbeginn fest. «Wir wissen, dass das Gericht die Hisbollah-Mörder überführen wird und die Wahrheit aller in Libanon begangenen Verbrechen ans Licht kommt», glaubt Hariris Neffe Ahmed, der das Verfahren bereits als «Sieg der Friedliebenden» preist. Doch längst nicht alle Libanesen teilen diese Ansicht. Und von Frieden gibt es in Libanon keine Spur.

Fünf Tote bei Selbstmordanschlag

Nur zwei Stunden vor Prozessbeginn in Den Haag hatte in der von Schiiten bewohnten Stadt Hermel ein Selbstmordattentäter fünf Menschen in den Tod gerissen. Der Anschlag wird die grossen Spannungen zwischen der sunnitischen und schiitischen Bevölkerung weiter verschärfen. Das kleine Land hat seit fast einem Jahr keine funktionierende Regierung. Der Bürgerkrieg in Syrien hat in Libanon die alten Wunden wieder aufgerissen. Die von Iran und den arabischen Golfstaaten geschürte Gewalt in dem Nachbarland schwappt immer wieder über.

Neutrale Libanesen, wie der Politologe Souhail Natour, halten den Zeitpunkt des Hariri-Prozesses daher für «ausgesprochen unglücklich». «Die Menschen fürchten sich vor der grossen Abrechnung, die das Verfahren auslösen könnte.» Eine Verurteilung der Angeklagten werde dem zerrissenen Land nicht Frieden und Gerechtigkeit, sondern Hass und neue konfessionelle Zwietracht bringen.

Die von den Vereinten Nationen 2005 eingesetzte Untersuchungskommission hatte zunächst hochrangigen syrischen und libanesischen Militärs den Mord an Hariri angelastet. Tagelange Massendemonstrationen im Rahmen der «Zedernrevolution» hatten zuvor die syrische Armee zum Abzug aus Libanon gezwungen. Vier Jahre später berichtete «Der Spiegel», vier Aktivisten der Hisbollah hätten den Mordanschlag koordiniert und durchgeführt – was Chefankläger Norman Farrell bald darauf bestätigte. Seine Anklage stützt sich vor allem auf die Auswertungen von Handytelefonaten zwischen den mutmasslichen Verschwörern in den sechs Wochen vor dem Anschlag. Die Tat sei von einem Kontaktmann in einem Südbeiruter Hospital der Organisation nachweislich koordiniert worden.

Die Hisbollah hält die Handydaten jedoch für «manipuliert». Mitarbeiter libanesischer Mobilfunkunternehmen seien als israelische Agenten enttarnt worden, behauptet die pro-iranische Organisation. Sie hat dem Sondertribunal «umfassende Beweise» zur Verfügung gestellt, die während des Verfahrens auch berücksichtigt werden sollen.

Hisbollah glaubt an Verschwörung

Das Sondertribunal hält Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah für eine «grosse Verschwörung». Mit dem Verfahren versuche die nach dem Tod von Hariri an Bedeutung verlorene sunnitische «Zukunftsbewegung» die schiitischen Freischärler zu entwaffnen. Die Hisbollah wird das Urteil niemals akzeptieren. Ihr politisches und militärisches Überleben in Libanon hängt freilich nicht von einem Schuldspruch der Richter, sondern vom Ausgang des Bürgerkrieges in Syrien ab, der das Verfahren auf noch unabsehbare Zeit überschatten wird. Hisbollah-Kämpfer unterstützen seit 18 Monaten den Überlebenskampf von Syriens Herrscher Assad.