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Alt SP-Nationalrat und Ex-Botschafter Tim Guldimann ist überzeugt, dass die EU sozialer werden muss. Das Vorgehen des Bundesrates beim Rahmenabkommen findet er falsch.
Er ist einer der bekanntesten Diplomaten der Schweiz: Tim Guldimann war Botschafter im Iran und in Deutschland. Nach der Pensionierung wurde er 2015 für die Zürcher Sozialdemokraten in den Nationalrat gewählt, wo er dann aber nur zweieinhalb Jahre blieb. Der selbst ernannte «Internationalrat» musste anerkennen, dass sich ein Parlamentsmandat schlecht mit seinem Wohnsitz in Deutschland verträgt. Die Redaktion CH Media erreichte ihn gestern telefonisch in Berlin.
Im EU-Parlament sitzen künftig mehr europaskeptische Politiker als jemals zuvor. Was sind die Folgen?
Tim Guldimann: Es besteht die Gefahr, dass Europa in Zukunft von China und den USA dominiert wird. Wenn sich die EU auch künftig in der Weltpolitik behaupten will, müsste sie sich reformieren. Aber die neuen Rechtspopulisten im EU-Parlament machen Reformen und mehr Integration noch schwieriger, das ist klar. Diese Leute wollen den ganzen Laden am liebsten abschaffen.
Sie sind SP-Mitglied. Bereitet es Ihnen Sorgen, dass sozialdemokratische Parteien in ganz Europa langsam ihre Machtbasis verlieren?
So eindeutig ist diese Entwicklung nicht. In Holland beispielsweise ist die sozialdemokratische PvdA erst gerade zur stärksten Partei gewählt worden. Aber es ist so: Die europäische Sozialdemokratie muss sich neu positionieren. Das kann sie aber nur, wenn sie überzeugend für eine sozialere EU eintritt.
Das heisst?
Wir müssen das Prinzip «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» durchsetzen. Dafür braucht es einen stärkeren Lohnschutz. Ich wäre für europaweite, national differenzierte Mindestlöhne.
Sind solche Forderungen denn realistisch?
Pauschal argumentiert besteht in Westeuropa die Chance, soziale Positionen mit einer proeuropäischen Haltung zu verbinden. Das ist viel schwieriger in Osteuropa, wo linke Konkursverwalter des Kommunismus heute die sozialen Fragen nationalistisch bewirtschaften.
Weltweit haben linkspopulistische Politiker Auftrieb. Ist das ein Signal an die sozialdemokratischen Parteien, sich generell stärker nach links auszurichten?
Ich habe nichts dagegen, wenn bei uns der linke Flügel auch mal radikale Forderungen stellt. Das mobilisiert die linke Wählerschaft, ohne die Welt zu verändern. In der für mich wichtigen Europapolitik und den gesellschaftlichen Fragen müssen wir aber dringend den Mitte-links-Konsens erhalten.
Bald steht die Wahl des neuen EU-Kommissionspräsidenten an. Ihre Prognose?
Im Machtkampf mit dem Rat der Regierungschefs wird das neue EU-Parlament geschwächt, weil es sich durch die erstarkten Antieuropäer schlechter einigen kann.
Welcher Kandidat wäre aus Sicht der Schweiz optimal?
Die Zukunft des Rahmenabkommens hängt nicht vom neuen Kommissionspräsidenten ab, sondern allein davon, ob sich der Bundesrat endlich für den Vertrag entscheiden kann. Eine weitere Verzögerung blockiert unsere Beziehungen mit der EU sicher für zwei Jahre. Der Status quo erodiert. Die bestehenden Verträge werden nicht aufdatiert und es gibt keine neuen Verträge. Allenfalls werden wir noch aus der Forschungszusammenarbeit gekippt.
Der Bundesrat will aber noch nicht in diesem Sommer entscheiden. Zuerst soll die Bevölkerung über die SVP-Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit abstimmen.
Ich finde das falsch. Der Bundesrat müsste endlich Führungsverantwortung übernehmen und überzeugen, anstatt sich ständig vor dem eigenen Volk zu fürchten. Ein Ja zur SVP-Initiative würde den Bilateralismus grundsätzlich in Frage stellen. Das lässt sich noch leichter erklären als die Notwendigkeit des neuen Waffenrechts, das am vergangenen Wochenende klar angenommen worden ist. Ich begrüsse es aber sehr, dass der Bundesrat für die Akzeptanz eines Rahmenabkommens neue Massnahmen zum Schutz älterer Arbeitnehmer beschlossen hat.
Es gibt offene, sehr umstrittene Fragen. Das spricht gegen eine rasche Verabschiedung.
Wir wollen immer alles bis ins letzte Komma geregelt haben und haben Angst, uns mit Brüssel zu streiten, wenn es darum geht, unsere Interessen durchzusetzen. Alle EU-Mitgliedstaaten tun das ausgiebig und erfolgreich, während wir in der Vertragsauslegung oft zu vorauseilendem Gehorsam neigen. (lhn)