Peking hat den Bürgerrechtler Chen Guangcheng in die USA reisen lassen – und hofft wohl, dass die Welt bald das Interesse an dem Star-Dissidenten verliert.
PEKING. Am Ende seiner spektakulären Flucht in die Freiheit ist Chen Guangcheng vor allem dankbar. Auf Krücken steht er am Samstagabend vor seinem neuen Zuhause, einem Wohnheim der New York University, umhüllt von Applaus und wirkt überwältigt von all der Unterstützung, die seine Ausreise aus der Volksrepublik ermöglicht hat. Er danke den amerikanischen Diplomaten und allen Anhängern, die sich für ihn eingesetzt hätten, sagt der blinde Bürgerrechtler und fügt schnell hinzu, er sei auch «dankbar, dass die chinesische Regierung zurückhaltend und ruhig» mit seiner Situation umgegangen sei.
Einigen seiner Fans ist das zu viel der Höflichkeit. Dank an ein Regime, das sieben Jahre lang zugelassen hat, dass Chen und seine Familie von skrupellosen Beamten eingesperrt und misshandelt wurden? Doch Chen, dessen Fall der Kommunistischen Partei einen gewaltigen Gesichtsverlust beschert und die amerikanisch-chinesischen Beziehungen schwer belastet hat, ist offensichtlich darauf bedacht, die Brücken in seine Heimat nicht von sich aus abzubrechen. Der 40-Jährige hat sich schliesslich nie als Regimegegner gesehen, sondern nur versucht, mit seinem Rechtswissen, das er sich im Selbststudium angeeignet hatte, seinen Mitmenschen zu helfen. Ob und wann Chen wieder nach China zurückkehren kann, ist allerdings ungewiss. In Peking dürfte man zunächst froh sein, den unbequemen Aktivisten los zu sein – und darauf hoffen, dass die Welt nun bald das Interesse an ihm und seiner Geschichte verliert.
Keine 24 Stunden vor Chens Auftritt vor der amerikanischen Presse, am frühen Samstagnachmittag chinesischer Zeit, hatten die chinesischen Behörden Chen überraschend mitgeteilt, dass seine Ausreise unmittelbar bevorstehe. Begleitet von einem Polizeiaufgebot und Diplomaten des chinesischen Aussenministeriums wurde Chen mit seiner Frau und seinen beiden Kindern zum Flughafen gefahren, wo die Familie abgeschirmt von der Öffentlichkeit in eine United-Airlines-Maschine nach New York eskortiert wurde.
Mit der Ausreise hat Chinas Regierung eine Zusage gehalten, die sie amerikanischen Diplomaten nach hitzigen Verhandlungen gemacht hatte. Chen, der 2005 Opfer von Zwangsabtreibungen und -sterilisationen juristisch beraten hatte, war Ende April aus dem Hausarrest geflohen und hatte in der amerikanischen Botschaft Zuflucht gesucht. Peking und Washington einigten sich schliesslich darauf, dass Chen als Student ausreisen könne. Er hat eine Studienplatzzusage der juristischen Fakultät der New York University. Während Chen nun vor Repressalien sicher ist, sind seine Angehörigen weiterhin Opfer schwerer Repressionen. Chens Heimatort Dongshigu ist von der Aussenwelt abgesperrt. Zahlreiche chinesische Unterstützer Chens wurden von der Polizei verhört und unter Druck gesetzt.