Sadiq Khan will am Donnerstag Londoner Bürgermeister werden – als erster Moslem. Kurz vor dem Ziel könnten ihm Antisemitismus-Vorwürfe gegen Parteikollegen zum Verhängnis werden.
Entgleitet ihm der beinahe sicher geglaubte Preis? Furcht, Ärger, Ohnmacht sind Sadiq Khan ins Gesicht geschrieben. Eine Woche vor der beinahe sicher geglaubten Wahl des Labour-Kandidaten fürs Londoner Rathaus haben Antisemitismus-Vorwürfe gegen führende Anhänger des Vorsitzenden Jeremy Corbyn die Partei in eine tiefe Krise gestürzt. Bisher verbarg der 45-Jährige seine Zuversicht hinter der beliebten Politikerphrase, er sei «zuversichtlich, aber keineswegs siegesgewiss». An diesem Sonntag, im Angesicht des parteiinternen Scherbenhaufens, sagt Khan: «Es ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen.»
Antisemitismus von Parteigenossen käme jedem Kandidaten in die Quere, für diesen gilt es besonders. Denn mag Khan auch ein guter Anwalt und glänzender politischer Organisator sein, Familienmensch, Fan des FC Liverpool – «viele Leute definieren mich in erster Linie über meine Religion», sagt er selbst. Ein gläubiger Moslem als Nachfolger des charismatischen Boris Johnson wäre in Zeiten nationalistischer Hassparolen und Islamphobie à la Trump tatsächlich ein mächtiges Symbol: für die Offenheit der Weltstadt; für die gelungene Integration vieler ethnischer Minderheiten auf der Insel, darunter auch der überwältigenden Mehrheit britischer Moslems; für die Normalität des Zusammenlebens.
Der in London geborene Sohn einer Näherin und eines Busfahrers aus Pakistan wuchs mit sieben Geschwistern im armseligen Stadtteil Tooting auf, schaffte es auf die Uni, zählte schon in jungen Jahren zu den profiliertesten Menschenrechtsanwälten des Landes. Auch in der Politik machte er rasch Karriere und zog 2005 ins Unterhaus ein, damals als einer von gerade einmal vier Moslems, allesamt Labour-Politiker. Bald schärfte der Parlamentarier sein landesweites Profil, nicht zuletzt mit Forderungen an seine rund drei Millionen Glaubensgeschwister: Britische Moslems sollten sich besser integrieren, Englisch lernen und für ihre Rechte eintreten, statt dauernd auf die Politik ihrer Herkunftsländer zu starren. Wichtig seien vor allem mehr Mitspracherechte und Förderung für Frauen, auch in Moscheen, argumentierte Khan schon 2008.
Mittlerweile gehören acht moslemische Frauen und fünf moslemische Männer dem Unterhaus an, der Konservative Sajid Javid sitzt als Wirtschaftsminister sogar im Kabinett. Aber immer wieder machen Moslems auch negative Schlagzeilen: als Kämpfer für den IS in Syrien, als Helfershelfer der islamistischen Massenmörder von Paris und Brüssel, als Briten mit grosser Distanz zu ihrer Heimat. Typischerweise ist von der jüdischen Herkunft des härtesten Gegenkandidaten, Zacharias Goldsmith, nie die Rede, während sich Khan immer wieder rechtfertigen muss. Es gehe weder um Rasse noch Religion, sondern um Khans Urteilsvermögen, behaupten die Konservativen.
Tatsächlich hatte der Anwalt über die Jahre nach eigenem Eingeständnis immer wieder mit «unappetitlichen Gesellen» zu tun, Hasspredigern, islamistischen Fanatikern, Terrorverdächtigen – Alltag eines Strafverteidigers eben. Den antisemitischen Unsinn seiner Parteifreunde hat er stets scharf verurteilt. Ob ihm das in der Schlussphase des Wahlkampfes nutzt? Khan wird die ganze Kraft der lokalen Londoner Parteimaschine brauchen, wenn er am Donnerstag das Rathaus der 8,5-Millionen-Metropole erobern will.