Analyse
Wie eine HSG-Dozentin als Moderatorin die Mechanismen von Putins Propagandasender kennenlernte

Die russischen Medien sind nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine gleichgeschaltet. Der Ursprung der Propaganda-Maschinerie des Kremls liegt viel weiter zurück.

Gulnaz Partschefeld
Gulnaz Partschefeld
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Gulnaz Partschefeld hat ab 2006 für einen russischen Staatssender als Moderatorin gearbeitet. Seit 2008 ist sie in der Schweiz.

Gulnaz Partschefeld hat ab 2006 für einen russischen Staatssender als Moderatorin gearbeitet. Seit 2008 ist sie in der Schweiz.

Bild: ZVG

Januar 2006, Moskau: Präsident Wladimir Putin setzt der russischen Regierung das Ziel, «bis 2020 Russland zu einem der lebenswertesten Länder der Welt zu entwickeln». Für die Zielerreichung werden die sogenannten Nationalprojekte entworfen, die die Massnahmen zur Modernisierung der Gesellschaft zusammenfassen.

Im Sommer 2006 beginne ich meinen Job bei der staatlichen Medienholding «Allrussische staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft» in Moskau und bin zunächst zuständig für die Redaktion und Moderation der News in der Radiosendung «Yunost’».

Am Einführungstag werden mir die Grundlagen des Nachrichtengeschäfts beim Radiosender vermittelt. Die redaktionelle Auswahl und Abfolge der News folgen ganz bestimmten Regeln. Am Anfang steht die «Headline News», das Aktuelle und Wichtigste, meist ein Ereignis, gefolgt von einer positiven News, dann etwas Neutrales oder Internationales und zum Schluss etwas Entspanntes. Dann kommt der Wetterbericht in möglichst weit auseinanderliegenden Städten Russlands, denn wir würden ja ins ganze grosse Land senden.

In jedem Newsblock sollte man, wenn möglich, die zweite Nachricht (also die positive News) mit den Nationalprojekten des russischen Präsidenten verbinden. Die Nationalprojekte haben die Meisten als eine tolle und nötige Initiative gesehen. Das Arbeitsklima war gut und freundschaftlich. Eins wurde aber strikt kontrolliert und sanktioniert: die Korrektheit der Aussprache. Als national ausstrahlender Radiosender hatten wir bezogen auf die russische Sprache eine Vorbildfunktion.

Genau fünf Sekunden

2009 unterschreibt Wladimir Putin den Erlass «Über die nationalen Entwicklungsziele der Russischen Föderation bis 2030» mit folgenden Grundbegriffen: «Nationale Sicherheit», «Bedrohung der nationalen Sicherheit», «Strategische nationale Prioritäten», «Kräfte der nationalen Sicherheit». Diese Aspekte werden seitdem analog Nationalprojekten auf den Medienkanälen belichtet und in ein positives Licht gerückt.

«Die Zombokiste (Anmerkung der Redaktion: Beschreibung des Fernsehers als bösartiges Gerät, das die Zuschauer in Zombies verwandelt) ist geplatzt – live im Ersten Kanal» lese ich auf dem Cover der russischen «Novaya Gazeta» vom 16. März 2022. Über der Überschrift ein Bild, welches zwei Tage zuvor Schlagzeilen rund um die Welt gemacht hat.

Wir haben sie alle gesehen, diese Frau mit dem Plakat gegen den Krieg, die das News-Studio des Ersten Kanals bei der live Übertragung gestürmt und sich hinter der Moderatorin platziert hat.

Marina Ovsyannikova (rechts) ist für ihre Anti-Kriegs-Aktion erstinstanzlich zu einer Geldstrafe von umgerechnet 290 Franken verurteilt worden. Ob weitere Strafen folgen, ist noch unklar.

Marina Ovsyannikova (rechts) ist für ihre Anti-Kriegs-Aktion erstinstanzlich zu einer Geldstrafe von umgerechnet 290 Franken verurteilt worden. Ob weitere Strafen folgen, ist noch unklar.

Bild: Keystone

Für genau fünf Sekunden sehen und hören die Zuschauer das, was sie in russischen Medien noch nie so mitbekommen hatten: «No war. Stop War. Glaubt nicht die Propaganda. Man lügt euch hier an. Russen wollen keinen Krieg.»

Nur den eigenen Angeboten kann man vertrauen

Das Programm wurde nach fünf Sekunden auf einen Bericht über ein Krankenhaus umgeblendet und die Szene bei Wiederholungen schlicht rausgeschnitten. Marina Ovsyannikova – so heisst die Rebellin und Redaktorin des Senders – wurde abgeführt und 14 Stunden lang verhört. Die Szene verbreitet sich innert weniger Minuten im Netz.

Am Dienstag wurde Marina Ovsyannikova entlassen, für ihre vorab produzierte Videoaufnahme wurde sie zu einer Strafe von umgerechnet 290 Franken verurteilt, der Auftritt im Studio wird möglicherweise noch separat geahndet.

Die russische Medienlandschaft gilt nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine als gleichgeschaltet. Bereits seit den 2000er-Jahren sind die russischen Medien mehr und mehr unter Druck geraten und verstaatlicht, zur Aufgabe gezwungen oder verboten worden. Zuletzt stellte der alternative TV-Sender «Doshd» («Regen») den Betrieb ein.

Mit dem neuen Mediengesetz ist das eiserne Korsett perfekt. Journalisten und Medienschaffenden drohen bis zu 15 Jahre Haft, sollten sie die «Spezialoperation» in der Ukraine als Krieg bezeichnen. Auch das blosse Infragestellen des russischen Narrativs kann drakonisch geahndet werden.

Die staatliche Medienlandschaft verbreitet seit Jahren die Position, dass ausländische Medien lügen und dass nur den eigenen Angeboten vertraut werden kann. Zweifel im eigenen Haus haben nun das Potenzial, weitergehende Zweifel zu sähen, wie das Beispiel von Marina Ovsyannikova zeigen könnte.

Sie werden sich gegebenenfalls mit Informationsfetzen aus der Ukraine zu einem neuen Bild verbinden, gestützt durch Erzählungen von heimkehrenden Soldaten, die einen Krieg erlebt haben, keine Spezialoperation.

Gulnaz Partschefeld ist Lehrbeauftragte für Kulturgeschichte Russlands an der Universität St.Gallen und lebt seit 2008 in der Schweiz.