Kabul wird von einer Welle der Gewalt erschüttert. Seit Jahresbeginn kamen über 160 Personen bei Terrorakten ums Leben. Die Eskalation ist auch eine Reaktion auf die neue Afghanistan-Politik der USA.
Ulrike Putz, Singapur
Kaum waren die Toten vom Wochenende begraben, wurde die afghanische Hauptstadt Kabul gestern erneut von schweren Explosionen erschüttert. Bei einem Angriff von fünf schwerbewaffneten Kämpfern der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) auf eine Einrichtung der afghanischen Streitkräfte wurden nach offiziellen Angaben mindestens 15 Personen getötet. Zwei Angreifer hätten sich nahe einer Militärakademie im Westen der Stadt in die Luft gesprengt, zwei weitere seien erschossen und ein weiterer verhaftet worden, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums. Der IS bekannte sich kurz darauf zu der Tat.
Es war der dritte Anschlag in Kabul innerhalb von gut einer Woche. Am Samstag kamen 103 Personen ums Leben, als ein als Krankenwagen getarntes Fahrzeug im Stadtzentrum explodierte. Am Wochenende zuvor waren bei einem 17 Stunden dauernden Angriff auf das Hotel Intercontinental mehr als 20 Personen getötet worden. Zu beiden Taten bekannten sich die radikalislamischen Taliban. Anfang Januar waren bei einem Selbstmordattentat des IS auf einen Sicherheitsposten mindestens 20 Personen getötet worden.
Die Anschlagswelle der Taliban und des mit ihnen rivalisierenden IS sind Teil einer primitiven wie effektiven Strategie. Beide Gruppen wollen Terror säen, die Regierung von Präsident Aschraf Ghani schwächen und das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanischen Sicherheitskräfte untergraben. Langfristiges Ziel der Extremisten ist es, die demokratisch gewählte, vom Westen unterstützte Regierung zu stürzen und selbst die Macht in dem Land mit seinen 35 Millionen Einwohnern zu übernehmen. Anschläge mit möglichst vielen Toten dienen ihnen dabei als Mittel zum Zweck. Dass die Taliban einen Führungsanspruch über ihre Heimat geltend machen, liegt unter anderem daran, dass sie an der Macht waren, als die USA nach den Anschlägen vom 11. September in Afghanistan einmarschierten. Die Taliban hatten zuvor zugestimmt, den in Afghanistan versteckten Osama bin Laden an ein Drittland auszuliefern, doch Washington lehnte das ab.
Als Ergebnis führen die USA am Hindukusch den inzwischen längsten Krieg ihrer Geschichte – und das zunehmend allein. Seitdem vor drei Jahren die Nato ihren Kampfeinsatz in Afghanistan offiziell beendet hat, haben die Taliban grosse Teile des Landes zurückerobert.
2014 tauchten die ersten Kämpfer der Terrormiliz IS in Afghanistan auf. Sie hegen Pläne, am Hindukusch ähnlich wie in Syrien und dem Irak ein Kalifat zu errichten. Die Taliban und der IS sind aufgrund ihrer konkurrierenden Interessen verfeindet und liefern sich blutige Auseinandersetzungen, was die desolate Sicherheitslage in Afghanistan noch verschlimmert. Die Situation ist deshalb so verfahren, weil die USA sich unter keinen Umständen ohne einen militärischen Sieg aus Afghanistan zurückziehen wollen, sagen Beobachter. Es zeichne sich immer deutlicher ab, dass die USA den Krieg in Afghanistan nicht werden gewinnen können, schreibt etwa Michael Kugelman, Asien-Experte am Woodrow Wilson Center in Washington. Doch Washington verhindere Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban, die für die Verhandlung einer politischen Lösung des Konfliktes unerlässlich seien.
US-Präsident Donald Trump hatte sich im August 2017 zu einer härteren Gangart gegen die Taliban entschlossen und weitere US-Truppen an den Hindukusch entsandt. Seitdem sind wieder rund 15 000 amerikanische Soldaten in Afghanistan im Einsatz, US-Kampfbomber fliegen vermehrt Luftangriffe zur Unterstützung afghanischer Einheiten.
Die derzeitige Anschlagsserie ist nach Aussagen der Taliban eine direkte Reaktion auf diese amerikanische Eskalation. Nach dem Anschlag vom Samstag, bei dem sie einen Krankenwagen zu einer gewaltigen Autobombe umgebaut hatten, wandten sich die Taliban direkt an Trump. Die USA und ihr Präsident könnten nicht erwarten, dass die Afghanen friedlich auf ihre Politik der Aggression reagierten, erklärte ein Taliban-Sprecher.