Vor 100 Jahren
Augenzeuge schildert Färberstreik von 1919: «Blanker Hass stieg in mir auf»

Augenzeuge Ludwig Steffen schildert den Färberstreik von 1919 aus einer anderen Sicht.

Benjamin Rosch
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Propagandaschlacht: Das «Bürgerliche Bulletin» als Instrument gegen den Streik. Bild: Keystone

Propagandaschlacht: Das «Bürgerliche Bulletin» als Instrument gegen den Streik. Bild: Keystone

KEYSTONE

Der 1. August 1919 war ein schwarzer Tag in der Geschichte Basels. In der Ausgabe vom 31. Juli erinnerte die bz an den Färberstreik und wie damals fünf Menschen den Tod fanden. Der Artikel stützt sich stark auf den obrigkeitsgläubigen Chronisten Fritz Baur. Auf den Artikel meldete sich eine Frau, deren Grossvater die Geschehnisse hautnah erlebt hat – allerdings aus einer ganz anderen Warte. Ludwig Steffen war Gewerkschafter und Sozialdemokrat. In einem Buch «Vergangen? Vergessen? Vorbei?: 1918-1945: Rückblicke eines Basler Sozialdemokraten» hat er sein Leben verarbeitet. Das Folgende ist ein Auszug daraus.

Im Baselbiet läuten die Sturmglocken

Der Generalstreik in Basel war die Folge der Ablehnung eines Tarifvertrages mit Lohnverbesserungen, bezahlten Ferien und der 48-Stunden-Woche durch die Basler Färbereien. Das Signal zur Auslösung des Streiks war die Aussperrung der Arbeiterinnen und Arbeiter – in Basel allen voran durch die Firma Clavel-Lindenmayer. Vermittelungsversuche des Basler Einigungsamtes hatten fehlgeschlagen.

Da rief die Arbeiter-Union von Basel und Zürich ohne Zustimmung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes zum lokalen Generalstreik auf, um die Forderungen der Färbereiarbeiter zu unterstützen. In Zürich dauerte derselbe drei, in Basel zehn Tage. 3000 Streikende standen auf der Strasse. In beiden Städten wurde sofort Militär aufgeboten. In Baselland läuteten die Sturmglocken. Den von der Ernte weggeholten Bauern sagte man, in der Stadt sei die «Revolution» ausgebrochen! Das Infanterie-Regiment 21 und die Guidenabteilung 4 hatten in Basel zum «Rechten zu sehen».

In meiner Erinnerung sieht das so aus: Vor den Fabriktoren wurden je zwei mit scharfer Munition geladene schwere Maschinengewehre mit zwei Mann Bedienung aufgestellt. Beim Bankenplatz wurden zur Abschreckung der aufgebrachten Menge in die Steinsockel des Schweizerischen Bankvereins geschossen. Die Guiden ritten säubernd auf der ganzen Strassenbreite einschliesslich Trottoirs, Ross neben Ross, mit blankgezogenem Säbel die Freie Strasse hinunter bis zum Marktplatz. Die Demonstranten beim alten «Seibi» jagte man nach der Aufforderung, den Platz zu räumen, mit gefällten Bajonetten durch die Falknerstrasse bis zum Globus. Dort versuchten besonnene Genossen, die Mannen vom Lande zu beruhigen, doch war das ein hoffnungsloses Unterfangen. Durch die alte Greifengasse ratterten die Saurerlastwagen mit Vollgummireifen und aufmontierten scharf geladenen Maschinengewehren.

Die Chefs genossen das Schauspiel

Beim Claraplatz wurde über die Köpfe der in Panik geratenen Menschenmenge, welche sich auf den Boden warf oder in die Clarakirche flüchtete, Richtung Obere Rebgasse scharf geschossen. Auf der Kreuzung Utengasse/Greifengasse wurde ein Fräulein H. erschossen. Hinter der Türe, ich glaube es war bei der alten Clarapost, fand eine Frau ebenfalls durch einen durchschlagenden Prellschuss den Tod. Ferner wurden bei der Kaserne vier Arbeiter über den Haufen geschossen. (Hinweis der Red.: Die meisten Quellen berichten übereinstimmend von drei Menschen und insgesamt fünf Toten).

Bilanz: sechs Tote. Nach dem Abbruch des Streiks wurden Hunderte von Arbeiterinnen und Arbeiter gemassregelt und in den Betrieben nicht mehr eingestellt. Ich sehe sie heute noch, die weinenden und weggewiesenen Frauen vor dem Fabriktor der Hoffmann La-Roche AG. Ich wohnte sozusagen nebenan. An den Fenstern des alten Verwaltungsgebäudes standen die grinsenden und händereibenden Chefs und Doktoren, welche das makabre Schauspiel sichtbar genossen. Es war wie ein Bild von Käthe Kollwitz. Unauslöschlich hat sich dieses Bild in mein Herz eingegraben. Blanker Hass stieg damals zum ersten Mal in mir auf. Ich verstand nun das Wort «von den Herren und den Knechten».