Das Parlament versenkte in den letzten Jahren deutlich mehr Vorlagen des Bundesrats als in früheren Legislaturen. Langjährige Politiker kritisieren die Entscheidkultur in der Regierung, die zu oft Auseinandersetzungen vermeide.
BERN. Die Rentenreform von Alain Berset dürfte im Parlament einen schweren Stand haben. Es wäre in der laufenden Legislatur nicht die erste Niederlage für den Bundesrat. Im Gegenteil: Das Parlament könnte gar einen neuen Rekord brechen. Gemäss den Parlamentsdiensten versenkte es von 2011 bis heute bereits 22 bundesrätliche Vorlagen. Darunter waren grosse Vorhaben wie das Kartellgesetz, eine IV-Revision, die «Lex USA», die den Steuerstreit mit Washington lösen sollte, und das Erbschaftsabkommen mit Paris. Gewiss gaben dabei jeweils unterschiedliche Allianzen und Gründe den Ausschlag. Bei Steuerfragen etwa steht die Schweiz stark unter internationalem Druck. Und welcher Parlamentarier schluckt gerne laufend neue Kröten?
Die grosse Mehrheit der Vorlagen des Bundesrats kommt im Parlament zwar immer noch durch. Doch Auswertungen zeigen, dass es zu einer Zäsur gekommen ist – nicht in der laufenden Legislatur, sondern bereits nach der Abwahl von Christoph Blocher. «Zum grossen Bruch kam es 2007», sagt der Politologe Daniel Schwarz vom Berner Forschungsnetzwerk Politools. Zum Vergleich: Von 1999 bis 2003 lief der Bundesrat laut den Parlamentsdiensten mit keiner Vorlage auf, in Legislaturen davor bloss mit wenigen (siehe Grafik).
Dabei mag die Zusammensetzung des Bundesrats und die Zersplitterung der politischen Mitte eine Rolle spielen. Letztere führt dazu, dass sich mehr Parteien profilieren wollen. Kritiker sprechen zudem von einem Mitte-Links-Drall im Bundesrat. Die SVP wirft dem Gremium gar vor, es wandle auf «sozialistischen Pfaden». Dabei ist der Bundesrat neben den zwei SP-Magistraten bis heute aus fünf bürgerlichen Mitgliedern zusammengesetzt.
FDP-Fraktionschefin Gabi Huber und Ständerat Urs Schwaller, ehemaliger CVP-Fraktionschef, sind zwei langjährige politische Schwergewichte. Beide führen den tieferen Graben zwischen der Exekutive und der Legislative unter anderem auf die Entscheidkultur zurück.
Im Bundesrat gelte offenbar das Prinzip «Leben und leben lassen», sagt Huber. Anders gesagt: Die Bundesräte mischen sich nicht zu stark in die Geschäfte der Kollegen ein, damit sich diese im Gegenzug ebenfalls zurückhalten. Huber nennt etwa die Abgabe auf Kapitalgewinne, die im Rahmen der Unternehmenssteuerreform geplant ist. «Ich bin perplex, dass der bürgerlich dominierte Bundesrat mit so einem Vorschlag kommt.» Es sei absehbar, dass eine bürgerliche Mehrheit dagegen sei. «Damit ist auch der Abschuss im Parlament vorprogrammiert.»
Urs Schwaller stösst in ein ähnliches Horn: Er verlangt vom Bundesrat mehr Auseinandersetzungen, um unausgereifte Vorlagen zu vermeiden. «Gewisse Geschäfte sind zu stark von den Departementen statt vom Gesamtbundesrat geprägt.» Ein Beispiel war der Gegenvorschlag zur Einheitskasse: Alain Berset kam damit im Bundesrat durch, obwohl stets klar war, dass dieser im Parlament chancenlos sein würde. Erst nach heftigem Widerstand krebste Berset zurück.
Der CVP-Doyen gibt die Schuld aber nicht einfach dem Bundesrat. «Im Parlament geht es oft nicht mehr um die beste Lösung, sondern um die parteipolitische Profilierung.» Wer Positionen aufweiche, werde belächelt. Dass Politiker die Rentenreform nicht im Wahljahr beraten wollen, sei ein Armutszeugnis. «Wir müssen unsere Verantwortung wahrnehmen.»
Huber stellt zudem einen allgemeinen Trend zu mehr Regulierung fest, der nicht nur das Parlament, sondern auch den Bundesrat und die Verwaltung erfasse. «Man will jedes Problem mit einem Gesetz lösen.» So entstehe eine politische Kultur, die gut gemeint, aber letztlich schädlich statt nützlich sei.
Bei aller Kritik: Lob erhält die Regierung dafür von einer anderen Seite. SP-Präsident Christian Levrat sagte unlängst unserer Zeitung, der Bundesrat funktioniere wieder deutlich besser als vor 2007. Übersetzt heisst das auch: Heute gibt es mehr Vorlagen nach dem Gusto der SP.