«Schweiz hat eine Bringschuld »

Wie rassistisch sind die Schweizerinnen und Schweizer? Der Historiker Kijan Espahangizi hinterfragt scheinbare Normalität, bringt frischen Wind in die Migrationsdebatte und verleiht Migranten eine selbstbewusste Stimme.

Christina Genova
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«Es gibt kein Einwanderungsproblem, es gibt ein Gerechtigkeitsproblem», sagt Kijan Espahangizi. (Bild: Michel Canonica)

«Es gibt kein Einwanderungsproblem, es gibt ein Gerechtigkeitsproblem», sagt Kijan Espahangizi. (Bild: Michel Canonica)

Herr Espahangizi, Sie sagen, die Schweiz brauche Entwicklungshilfe in Demokratie. Sind Sie ein Provokateur?

Kijan Espahangizi: Nein, die gesellschaftliche Realität ist eine Provokation. Wir leben in einer direkten Demokratie, in der ein Viertel der Bevölkerung keine Bürgerrechte besitzt und in der man etwa auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt aufgrund seiner Herkunft diskriminiert wird. Rund jeder hundertste Mensch muss illegalisiert hier leben, und es werden herzlos wenig Flüchtlinge aufgenommen. Dass dies als Normalzustand hingenommen wird, ist eine Provokation.

In diesem Zusammenhang sprechen Sie von gesellschaftlichem Rassismus. Was verstehen Sie darunter?

Espahangizi: Rassismus, das sind nicht nur augenfällige rechtsextreme Ausfälle oder individuelle Haltungen. Rassismus strukturiert die Gesellschaft und hat vereinfacht gesagt drei Merkmale. Erstens: Die Menschen werden unterschiedlichen Gruppen wie Rassen, Ethnien und Kulturkreisen zugeordnet, aus denen sie nicht einfach heraus können. Zweitens: Der Zugang zu Ressourcen, Chancen, Rechten und Repräsentation ist unter diesen Gruppen ungleich verteilt. Drittens: Eine Gesellschaft, die solche Strukturen aufweist und diese als normal empfindet, nennt man rassistisch, auch wenn ein Grossteil der Bevölkerung keine rassistischen und fremdenfeindlichen Haltungen hat. Das trifft auf die Schweiz zu.

In Deutschland findet in bezug auf die Migration bereits ein Umdenken statt. Es wurde ein grosser Schritt Richtung «ius soli» gemacht: Wer dort geboren wird, bekommt unter bestimmten Bedingungen die deutsche Staatsbürgerschaft.

Espahangizi: Dies wäre auch für die Schweiz ein längst fälliger Schritt. Statt über Masseneinwanderung sollten wir über Masseneinbürgerung sprechen, und zwar nicht auf Antrag. Die Schweiz hat eine beträchtliche Bringschuld akkumuliert. Das helvetische Modell des Assimilationszwangs hat dazu geführt, dass sich ein immer grösserer Teil der Bevölkerung in einem Dauer-Wartesaal für Ausländer, Fremde und Menschen mit Migrationshintergrund wiederfindet. Die Schweiz braucht eine Art «Schuldenschnitt» gegenüber ihren nicht anerkannten Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Sonst haben wir irgendwann Verhältnisse wie im antiken Athen: Eine Minderheit bestimmt, der Rest darf zuarbeiten.

Glauben Sie, dass man dank einer Masseneinbürgerung die Eingewanderten mit anderen Augen sehen wird?

Espahangizi: Ja, man sieht es in Deutschland. Wichtig ist aber, dass gleichzeitig eine gesellschaftliche Debatte stattfindet. Denn Einbürgerungen lösen das Problem nicht von selbst. Die Schweiz müsste auch bereit sein, diese neuen Mitbürger mit all ihren Geschichten und Lebenswelten aufzunehmen und sich so in der faktischen Vielfalt neu zu erfinden. Noch ist das, was ich postmigrantische Lebensrealität in der Schweiz nenne, weder in der Politik noch in den Medien repräsentiert. Zum Beispiel: Ich bin jedes Mal ergriffen, wenn Barack Obama den Iranern und Kurden offiziell und sogar auf Persisch zum Neujahrsfest gratuliert. Solche Selbstverständlichkeiten wünsche ich mir auch in der Schweiz. Ein Teil der Schweizer Bevölkerung feiert Neujahr zum Frühlingsbeginn. Ob man das mag oder nicht, es ist längst eine Tatsache.

Was meinen Sie mit «postmigrantisch»?

Espahangizi: Wenn wir heute über Migration sprechen, dann meistens so, als fände sie erst in der Zukunft statt. «Postmigrantisch» hingegen heisst anzuerkennen, dass wir längst schon an einem Punkt angelangt sind, wo Migrationserfahrungen die Gesellschaft insgesamt prägen, nicht mehr nur einzelne Menschen mit Migrationshintergrund. Migrationserfahrungen sind auch über Liebesbeziehungen, Freundeskreise, über Bücher, Musik, Filme längst zu einem allgemeinen Kulturgut geworden. Wir sagen daher, die Schweiz als Ganzes hat Migrationsvordergrund.

Die Realität ist aber heute so, dass Schweizer Familien aus Quartieren mit vielen Migranten wegziehen. Was sagen Sie dazu?

Espahangizi: Das nenne ich Integrationsverweigerung. Es wird Zeit, Integrationsaufforderungen umzukehren und an die Dominanzgesellschaft zu richten. Gewiss, die postmigrantische Gesellschaft ist keine Idylle, sondern voller Spannungen und entgegengesetzter Entwicklungen. Auf der einen Seite gibt es postmigrantische Lebenswelten, die zeigen, dass es anders geht. Gleichzeitig haben wir wie auch in Deutschland einen Teil der Bevölkerung, der diesen längst stattfindenden Wandel nicht akzeptieren mag. In Deutschland sind diese Leute bei Pegida, hier in der grössten Partei.

Viele Secondos haben Karriere gemacht. Anscheinend funktionieren in der Schweiz auch ein paar Dinge?

Espahangizi: Secondos haben nicht wegen, sondern trotz der Schweiz Karriere gemacht. Es mag daran liegen – und das kenne ich selbst –, dass wir genau wissen, dass uns nichts geschenkt wird. Mein Vater hat zu mir gesagt: Du musst doppelt so gut sein wie die Deutschen. Dazu kommt: In der Schweiz äussert sich der Rassismus ab einer gewissen sozialen Stufe als Multikulti-Exotismus. Man gilt zwar weiterhin als Fremder im eigenen Land, aber wird, weil man Erfolg hat, innerhalb bestimmter Grenzen auf einmal interessant. Ein Moslem mit Charterfolg mag noch aufregend sein, ein Moslem aus der Unterschicht wird nur als Problem wahrgenommen. Es gibt hier einen flexiblen Leistungsrassismus, der sehr stark sozial differenziert.

Sie engagieren sich stark für die Rechte von Migrantinnen und Migranten, was ist Ihre Motivation?

Espahangizi: Darf ich umgekehrt fragen: Wie kann man bei so viel Ungerechtigkeit nichts machen? Dass ich mich mit Rassismus auseinandersetze, hat natürlich biographische Gründe. Ich habe gegenüber meiner Familie, aber auch allen anderen, die nicht zu Wort kommen, eine Verantwortung, mich gegen Rassismus einzusetzen. Mich einzumischen heisst aber auch, mich hier niederzulassen und dieses Land aller Widrigkeiten zum Trotz zu meinem Zuhause zu machen.

Referat von Kijan Espahangizi heute abend, Palace St. Gallen, 20.15 Uhr. Weitere Veranstaltungen der Lesekampagne mit dem Buch von Irena Brežná «Die undankbare Fremde» unter www.liesmituns.ch.