Chia-Samen erobern das Müesli. Sie sollen jünger, schöner und schlanker machen. Was dran ist am Hype um den sogenannten Superfood.
Sie sind grau und unscheinbar. Gerne bleiben sie dekorativ zwischen den Zähnen kleben. Chia-Samen sind der letzte Schrei in der sogenannten Superfood-Bewegung. In Flüssigkeit eingelegt quellen sie innert kürzester Zeit auf das Zehn- bis Zwölffache an. Ein klebriger Brei, der farblich an Beton erinnert. Diätgurus schwören auf die teuren Körnchen aus Südamerika. Ihr Nährwert soll unschlagbar sein: Ballaststoffe, pflanzliches Eiweiss, Vitamin B, Kalzium, Kalium, Eisen, Phosphor, Zink und Kupfer – alles ist auf kleinstem Raum vereint. Dazu Antioxidantien und Omega-3-Fettsäuren, die schön, schlank und gesund machen sollen. Was lange nur in Reformhäusern und im Internet erhältlich war, gibt es mittlerweile auch preiswerter beim Grossverteiler. Migros hat reagiert und verkauft die Samen seit kurzem pur oder in einem neu kreierten Bio-Müesli. Auch Aldi führt Chia-Samen.
Tamara Ruckstuhl, Ernährungsberaterin aus St. Gallen, findet Chia-Samen eine «gute Sache». Ihre Nährwerte seien in der Tat tiptop. Fragezeichen setzt sie allerdings wie andere Kritiker der Hysterie um Superfood bei der Herkunft. Produkte wie Chia-Samen, Amaranth-Körner, Algen, Aloe Vera, Acai-, Goji- und Maqui-Beeren, Moringa-Blätter oder Noni-Saft zeigen: Hauptsache exotisch, Hauptsache nichts Einheimisches. Von möglichst weit her muss es kommen, die dazugehörige Indianer- oder Eingeborenengeschichte bitte im Gepäck. So sollen Chia-Samen bei den Azteken und Mayas zu den Grundnahrungsmitteln gehört haben. Zwei Esslöffel in Wasser eingeweichte Körner hielten einen Krieger für 24 Stunden kampfbereit! Das fällt auch bei pazifistischen Gesundheitsbewussten auf fruchtbaren Boden. Ökologische Bedenken in Sachen Transport geraten ins Hintertreffen.
In den Medien quellen die Legenden um Superfood-Lebensmittel schon seit einiger Zeit. Das Europäische Informationszentrum für Lebensmittel schrumpft in seiner Erklärung einige der kursierenden Wundergeschichten auf ihre Originalgrösse zurück: «Der Begriff Superfood bezieht sich im Allgemeinen auf Lebensmittel, die aufgrund ihres Nährstoffgehalts einen höheren gesundheitlichen Nutzen als andere Nahrungsmittel haben sollen.» Auf den ersten Blick liessen entsprechende wissenschaftliche Studien vermuten, dass Nahrungsmittel der – wissenschaftlich nicht gestützten – Kategorie Superfood tatsächlich bestimmte gesundheitsfördernde Eigenschaften haben. Der Teufel liegt jedoch im Detail: Superfood wird in der Regel in kleinen Mengen konsumiert – und nicht unter Laborbedingungen, wo Ratten mit grossen, isolierten Mengen eines Produkts vollgepumpt werden. In der täglichen Ernährung fallen die Nährwerte in der Summe oft nicht höher aus als «normale», in grösserer Menge verzehrte Lebensmittel, die nicht erst einen Ozean überqueren müssen, bevor sie im Müesli landen.
Einheimisches wie Roggen, Dinkel, Hafer, Hirse und Kartoffeln bietet zwar pro Gramm nicht dieselbe Nährstoffdichte wie Chia-Samen. Dafür geniesst man es in der Regel in grösseren Portionen. Damit hebt sich der Vorsprung der Chia-Samen wieder auf. Karotten, Zwiebeln, Heidelbeeren oder Randen unterliegen ebenso wie Nüsse, Sesam, Leinsamen oder Kürbis- und Sonnenblumenkerne keinerlei Vorschriften in der verabreichten Menge – und sind ebenso gesund. Von Chia-Samen sollte gemäss Richtlinien der Europäischen Kommission maximal ein Esslöffel pro Tag, sprich 15 Gramm, konsumiert werden. Der gesundheitsfördernde Effekt könnte sonst ins Gegenteil umschlagen. Das Geheimnis einer gesunden Ernährung liegt auch nicht in der Reduktion des Speiseplans auf einige wenige, als gesund geltende Nahrungsmittel. Je abwechslungsreicher und vielfältiger desto besser, weiss die Ernährungsberaterin.
Sie rät vor allem zur Freude am Experimentieren. «Wer Lust hast, Chia-Samen auszuprobieren, soll das tun.» Ob man davon wirklich abnimmt, länger satt bleibt oder schöner wird als von anderen Lebensmitteln, ist nicht erwiesen. Vielleicht hilft es ja, daran zu glauben. Manche fühlen sich schon gut, wenn sie ein Lifestyle-Produkt über das Essen streuen. Ob der «Schlankmacher der Stars», wie die Früchtchen der ursprünglich mexikanischen Salbeiart gelegentlich bezeichnet werden, tatsächlich zack, zack zu Size Zero führt, ist zweifelhaft. Schlanke Menschen tun vor allem eins: Sie essen wenig.