Ab Samstag fordert der Norweger Magnus Carlsen Schachweltmeister Viswanathan Anand heraus. In seiner Heimat ist der zurückhaltende Carlsen ein Volksheld – mit unbedingtem Siegeswillen.
Das Gymnasium kurz vor dem Ziel wegen eines Brettspiel-Hobbies abzubrechen, hätte viele Eltern in Besorgnis gestürzt. Nicht so Sigrun und Henrik. Die Eltern von Magnus Carlsen erkannten früh die Begabung ihres Sohnes für das Schachspiel und unterstützen ihn. Innerhalb weniger Jahren spielte sich das Wunderkind in die Spitze der Weltrangliste. Schachlegenden wie Garry Kasparow und der gegenwärtige Weltmeister Viswanathan Anand priesen den «norwegischen Knaben» schon vor Jahren öffentlich als den zukünftigen Weltmeister an. Vielleicht kommt dieser Moment jetzt schneller, als es dem 43jährigen Anand aus Indien lieb ist. Ab Samstag werden die beiden in Chennai gegeneinander antreten. Insgesamt gibt es 2,5 Millionen Dollar Preisgeld. Der Sieger wird in maximal zwölf Partien ermittelt. Ende November spätestens wird er feststehen.
Magnus Carlsen legte schon als Zweijähriger Puzzlespiele aus 50 Einzelteilen zusammen, erinnern sich die Eltern. Sein Vater brachte ihm später mit fünf Jahren das Schachspielen bei. Als Carlsen endlich lesen konnte, verschlang er die Weltliteratur des Schachspiels in wenigen Jahren. Mit acht nahm er erstmals an einem Schachturnier teil und durfte später in die Schachabteilung des norwegischen Spitzensportler-Gymnasiums. Zu Hause spielte er ununterbrochen Schach, manchmal wochenlang. Weil am Familienesstisch nicht genug Platz für Spielbrett und Mahlzeit zugleich waren, bekam er einen eigenen kleinen Tisch.
Carlsens Ausdauer und Konzentrationsvermögen brachten ihm später unverhoffte Siege in letzter Minute. Carlsen strebt im Spiel oft Zermürbungsstellungen an, in denen er seine Gegner unter Druck setzen kann. Insbesondere im Endspiel spielt er sehr stark und nutzt gegnerische Flüchtigkeitsfehler wirksam aus.
Ist Carlsen ein Wunderkind? Er selbst verneint das. Das meiste habe er sich durch hartes Training angeeignet. Gleichzeitig spielt er gern Fussball und hält sich so auch körperlich topfit.
Eine Freundin haben die ihn eifrig beobachtenden norwegischen Boulevardblätter bislang nicht ausmachen können. Dabei war er schon mal mit dem Hollywood-Star Liv Tyler zu sehen. Das aber hatte berufliche Gründe: Zusammen mit ihr wirbt er für eine holländische Kleiderfirma. Deshalb trägt er – unüblich für Schachspieler – stets schnittige Markenkleidung bei öffentlichen Auftritten. Das Werbegeld dürfte ihn bald zum Millionär machen, erst recht, wenn er die Weltmeisterschaft gewinnen sollte. Dabei lebt Carlsen noch bei seinen Eltern. Und um die kleinen Probleme des Lebens muss er sich auch sonst nicht kümmern. Die Eltern und sein Manager Espen Agdestein halten dem in Norwegen für seine Kauzigkeit bekannten jungen Mann den Rücken frei.
Carlsen selbst wirkt in der Öffentlichkeit schüchtern, nachlässig, nicht zu ehrgeizig. Der lange Augenkontakt mit Fremden fällt ihm schwer. Er weint schon mal, wenn er verliert, aber insgesamt ist er gelassen – und viel selbstsicherer, als der erste Eindruck durchschimmern lässt. Schachspielen wolle er nur so lange, wie er Freude daran habe, sagt er. «Schach macht einfach Spass. Das ist das Wichtigste für mich. Weltmeister muss ich nicht unbedingt werden, obwohl das natürlich schön wäre.»
Norwegen war lange nur als Schmiede für Elitewintersportler bekannt: Langläufer, Skispringer, aber auch Skirennfahrer. Carlsen nun hat durch seine Erfolge auch das Schachbrett in die Herzen seiner Landsleute gerückt. «Hunderte von Millionen Menschen haben über mehrere Tausend Jahre Schach gespielt. Von all diesen Menschen ist Magnus der beste», sagt Schachexperte Torstein Baer vom öffentlich-rechtlichen norwegischen Rundfunk NRK. Viele Norweger dürften das Turnier am Bildschirm verfolgen. Die Chancen für Carlsen stehen gut. Zwar sprechen der Heimvorteil und die Erfahrung für den Titelverteidiger aus Indien, das Selbstvertrauen und der unbedingte Siegeswille aber für den Herausforderer aus Skandinavien.
Carlsens Karriere verlief mehr als beeindruckend. Seit seinem achten Lebensjahr beschäftigt er sich fast Tag und Nacht mit dem Brettspiel, mit 13 war er Grossmeister, mit 19 die jüngste Nummer eins der Welt. Im Februar dieses Jahres erreichte er eine ELO-Zahl, welche die Spielstärke angibt, von 2872 Punkten – das ist der höchste Wert, den je ein Spieler erreichte.