Martin Booms hat festgestellt: Fragen wie die nach Gerechtigkeit und dem guten Leben liegen den Menschen immer mehr am Herzen. Deshalb diskutiert er darüber in der Reihe «Philosophie im Kino» und zeigt die dazu passenden Filme.
Ein Mittwochabend in St. Gallen. Das kleine Kinok in der Lokremise füllt sich stetig. Doch bevor der schräge Film «Muxmäuschenstill» über Mux, der die Welt verbessern will, über die Leinwand flimmert, baut sich vorne ein grossgewachsener Herr auf. Er hat eine helle Strähne im dunkelblonden Haar, trägt Anzug und begrüsst die Gäste zur Reihe «Philosophie im Kino». Heute will er über «Bürgerliches Engagement zwischen Recht und Moral» sprechen.
Herr Booms, sind derzeit gute oder schlechte Zeiten für Philosophie?
Martin Booms: Sehr gute. Weil wir einen deutlichen Wertewandel erleben. Die Menschen fragen sich, ob die Massstäbe, die wir bisher angesetzt haben – Karriere, materielle Werte – noch Bestand haben. Themen wie «Was ist gerecht?», «Wie sollte Wohlstand verteilt werden?» sind überall präsent und werden sogar an den Stammtischen diskutiert. Das sind tief philosophische Fragen. Die Menschen brauchen nur einen Ort, wo sie sich trauen mitzureden.
Warum behandeln Sie philosophische Fragen im Kino?
Booms: Wir haben gravierende ethische Fragen jeden Tag auf dem Tisch, in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft. Dennoch sind Philosophen im öffentlichen Diskurs fast nicht präsent. Sie müssen sich in diese Debatten einmischen, sie haben da etwas zu sagen. Deswegen die Idee, Philosophie öffentlich zu machen.
Launig erzählt Booms den Kinogästen von «Knöllchen-Horst», der eigentlich Horst-Werner Nilges heisst, in der deutschen Provinz lebt und in seinem Leben bereits 30 000 Anzeigen gestellt hat. Vom kauzigen Rentner kommt Booms auf die Frage: Wo verlaufen die Grenzen zwischen bürgerlicher Verantwortung und Zivilcourage einerseits und solch anmassender Selbstjustiz andererseits? Dann heisst es: Film ab!
Wie kamen Sie auf die Idee, dass Kino und Philosophie gut zusammenpassen könnten?
Booms: Anspruchsvolles Kino hat immer schon eine philosophische Dimension. Viele Filme berühren Fragen wie «Was ist das richtige Leben?», «Was brauchen wir zum Glück?»
Welchen Einfluss hat der Film auf die Diskussion hinterher?
Booms: Wenn wir im Film emotional erschüttert werden, hilft das, Denkschemata aufzubrechen, in denen wir sonst gefangen sind. Man bekommt im Film alternative Möglichkeiten zu eigenen Denkwegen vorgestellt. Es ist nicht Selbstzweck der Reihe, Gefühle hervorzurufen, aber sie will zeigen, dass man Unterhaltung und anspruchsvolles Denken zusammenbringen kann.
Gab es eine Initialzündung für die Reihe?
Booms: Ich habe zum Abschluss eines Seminars an der Universität zu Kants «Kritik der reinen Vernunft» einen Film gezeigt und mit den Studierenden diskutiert. Der Film war «Matrix». Das ging hervorragend, und ich dachte, ich könnte es auch in der breiteren Öffentlichkeit versuchen. Dann gab es einen Pilotversuch im grössten Bonner Innenstadtkino, und zur Überraschung aller, inklusive der Kinobetreiber, war die erste Veranstaltung mit 370 Menschen völlig überlaufen.
Martin Booms hat die Idee ausgebaut. Mittlerweile hat er 14 Themen und 14 dazugehörige Filme ausgesucht und in 31 Veranstaltungen in mehreren deutschen Städten, aber auch in Wien und St. Gallen mit über 3300 Teilnehmern diskutiert. Das sind im Schnitt hundert Teilnehmer pro Veranstaltung. Das Prinzip funktioniert, auch im Kinok. Kaum ist das Licht wieder angegangen, springt die Diskussion an. Fast alle beteiligen sich, weil der Film so viele Fragen aufwirft und Booms geschickt die Beiträge bündelt. Und plötzlich diskutieren alle über das hochkomplizierte Verhältnis von individuellem Moralempfinden und überindividuellem Recht.
Sie verfolgen einen Dreischritt: Einführungsvortrag – Film – Diskussion im Anschluss. Durch den Einführungsvortrag spuren Sie die Leute aber schon vor. Warum?
Booms: Es ist ganz wichtig, dass man sich den Film schon mit einer gewissen Perspektive anschaut. Es geht nicht darum, Antworten vorzugeben, sondern Fragen zu stellen. Aber bei der Gerechtigkeit zum Beispiel frage ich vorher: Wovon reden wir denn, wenn wir von Gerechtigkeit reden? Viele Menschen fordern vehement Gerechtigkeit ein, können aber nicht angeben, worin diese besteht.
Sie definieren Begriffe, zeigen ihre schillernde Mehrdeutigkeit?
Booms: Ja, und die Voraussetzungen, mit denen wir sie definieren. Wir verwenden Begriffe wie Elite, Wohlstand, Glück – als wenn einfach feststünde, was das ist. Da muss ja eine Definition dahinterstecken. Und ist die zutreffend? Tatsächlich ist es veränderbar, was darunter zu verstehen ist.
Das ist Ihr eigentliches Thema, oder? Dass unsere Grundlagen nur scheinbar fix sind.
Booms: Genau, das ist auch die Bestimmung von Philosophie: Aufklärung. Zum Beispiel über das nur scheinbare Selbstverständnis, dass Wachstum etwas in sich Gutes wäre. Tatsächlich hängt eine solche Gleichsetzung aber an Vorverständnissen, die überhaupt nicht selbstverständlich sind.
Sie geben auch Seminare an der HSG. Was bringen Sie den Studierenden bei?
Booms: Dass Wirtschaft und Werte zwei Seiten einer Medaille sind. Der Wandel der Wertvorstellungen betrifft die Wirtschaft massiv, weil die Menschen eine Wirtschaft nicht mehr akzeptieren, die sich völlig entkoppelt fühlt von ethischen Werten. Sie üben Druck aus, der bei den Unternehmern auch ankommt. Wer diesen Prozess verschläft, geht ein hohes Risiko ein, aus dem Markt zu verschwinden.