In Gesten geständig

In der Kathedrale hatte Jonathan Lunns Tanzstück «Schweigerose» Festspiel-Premiere: vieldeutig, doch zu wenig im Verborgenen.

Bettina Kugler
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Zeigen, was nicht gesagt werden kann: Dazu gehört in «Schweigerose» auch das Geheimnis des Raumes. (Bild: Theater St. Gallen/Andreas J. Etter)

Zeigen, was nicht gesagt werden kann: Dazu gehört in «Schweigerose» auch das Geheimnis des Raumes. (Bild: Theater St. Gallen/Andreas J. Etter)

«Ecoutez!», ruft der Erzähler zu Beginn von Clément Janequins Chanson «La bataille» auffordernd in die gesellige Runde – sie möge jetzt schweigen und den Heldentaten des Königs lauschen. Doch zeigt sich das Volk herzlich ungerührt von den Worten des Sängers und seiner einstimmenden Kollegen. Das ausgelassene Feiern auf den zwei seitlichen Plattformen vor dem Chorgitter geht unbeirrt weiter.

Janequins vierstimmige Ballade, sinnliches Panorama der Schlacht bei Marignano vor fünfhundert Jahren, bietet dem Basler Ensemble «thélème» eine prächtige Bühne für vokale Dramatik. In grellen Farben malt das Lied ein Kriegstableau, mit Geschrei und Waffenlärm, Hornsignalen und dem Hufschlag galoppierender Pferde. Jäh kontrastiert die heraufbeschworene Szenerie mit dem Ort, an dem sich Sänger und Tänzer gerade befinden: dem geweihten Altarraum der Kathedrale. Ein Kontrast, den Choreograph Jonathan Lunn bewusst setzt und verstärkt. Greuel und Lebensfreude treffen auf Transzendenz.

Geheimzeichen, Gebärden

Es ist der redseligste Moment eines ansonsten nervös und unruhig um Geheimnisse kreisenden Stückes, mit dem die St. Galler Festspiele nach zweijähriger Pause an eine Reihe erfolgreicher Tanzproduktionen in der Kathedrale anzuknüpfen versuchen. Zur Premiere strömte das Publikum allerdings zögerlicher als in früheren Jahren.

Vieldeutig spielt «Schweigerose» mit Gesten, Körpercodes und nichtsprachlichen Offenbarungen; Jonathan Lunn hat sie von Texten ausgehend mit der Tanzkompanie entwickelt. Manche wirken wie Geheimzeichen und werden immer wieder aufgenommen; andere erinnern an Gebärdensprache, zeigen zuweilen recht plakativ, wovon in lebhaften Gruppensequenzen und innigen Paarepisoden die Rede ist: Die Hand, die das Ohr oder den Mund zudeckt, Finger auf den Lippen, Gesichter, die sich einander vertraulich zuwenden und zugleich verschliessen.

Resonanzkörper Kathedrale

Das Sagen, besonders wenn es um geistliche Inhalte geht, hat in «Schweigerose» zweifellos die Musik: eine dramaturgisch durchdachte, am Ende in der Motette «O sacrum convivium» überirdisch schön zusammengeführte Verbindung aus Vokalstücken der Renaissance und Orgelmystik des 20. Jahrhunderts von Olivier Messiaen. Domorganist Willibald Guggenmos, bestens vertraut mit dem bildkräftig verstärkten Resonanzkörper Kathedrale, rückt die drei ausgewählten frühen Werke Messiaens suggestiv in wechselndes Licht – ein Licht, mit dem die aufgestellten Scheinwerfer, ihre Hell-Dunkel- und Farbeffekte schwerlich konkurrieren können.

So erscheint es wie eine Demutsgeste, wenn Jonathan Lunn und Lichtdesigner Andreas Enzler den Blick in den letzten Takten des metrisch schwebenden, entrückten «O sacrum convivium» den Tänzern hinterher, durch den Mittelgang nach oben führen. Auf die Empore, wo die Orgel königlich golden erstrahlt.

Leuchten von oben

Von hier kam gut eine Stunde lang das Leuchten, ein Abglanz des Unsagbaren: sei es in der gross angelegten Steigerung der «Apparition de l'Eglise éternelle» (1932), in der angehaltenen Zeit, der fühlbaren Ewigkeit des «Banquet céleste» (1928) als Gegenstück zu jenem irdischen Bankett, das die Kompanie zu Janequins «La bataille» vor Augen führt. Oder sei es in der «Offrande au Saint Sacrement», mit der sich der Tanz schliesslich ganz dem sakralen Raum anvertraut. In makelloser Selbstverständlichkeit strömen von Anfang an die fünf flexiblen Stimmen von «thélème» – sie dringen auch in hinterste Winkel vor.

Beschränkt aufs gut Sichtbare

Etwas scheu hingegen bewegt sich die Choreographie über weite Strecken einzig auf den Podesten rechts und links des vor zwei Jahren neu gestalteten Altars. Sie setzt bei ohnehin nicht optimalen Sichtverhältnissen auf das uneingeschränkt Sichtbare. Das aber spricht – respektive verweigert sich der Aussage – präzise, in markanten, kraftvollen Bewegungsabläufen und Gesten.

Das symbolische Zentrum, die Rose mit geschlossenen oder sich auffaltenden Blättern, setzt Jonathan Lunn sparsam ein; umso mehr berührt das Bild der sich kreisförmig einander zuneigenden Körper, umso stärker prägt es sich ein.

Der Raum hält still

Nur selten, etwa nach dem Introitus «Gaudeamus omnes», kommen Schatten ins Spiel, nimmt man den Raum dynamisch, als Spiegel oder Widerpart tänzerischer Aktion wahr. Schon gar nicht wird er nach seinem Geheimnis befragt. Erst am Ende bewegt sich der Blick des Publikums. Das erstaunt angesichts des Themas; choreographisch findet in «Schweigerose» kaum etwas nur Hör- oder Ahnbares im Verborgenen statt. Gleichwohl weckt das Stück sinnlich und klug die Neugier: einerseits auf die möglichen Wahrheiten hinter den Zeichen, andererseits auf die Fortsetzung der Trilogie im nächsten Jahr.

Schweigen trifft Redseligkeit: Ana Sánchez Martinez und Jack Widdowson in einem vielsagenden Zwiegespräch. (Bild: Theater St. Gallen/Andreas J. Etter)

Schweigen trifft Redseligkeit: Ana Sánchez Martinez und Jack Widdowson in einem vielsagenden Zwiegespräch. (Bild: Theater St. Gallen/Andreas J. Etter)