«Renzis Bilanz ist desaströs»

Seit einem Jahr ist in Italien die Regierung von Matteo Renzi im Amt. Der junge Premier hatte zahlreiche Reformen und eine «Wende zum Guten» versprochen. «Alles Bluff», sagt Corrado Passera, Topmanager und ehemaliger Minister für wirtschaftliche Entwicklung.

Dominik Straub/Rom
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Mit seiner eigenen Partei Italia Unica will Corrado Passera seinen politikverdrossenen und wütenden Landsleuten eine neue politische Heimat bieten. (Bild: ap/Antonio Calanni)

Mit seiner eigenen Partei Italia Unica will Corrado Passera seinen politikverdrossenen und wütenden Landsleuten eine neue politische Heimat bieten. (Bild: ap/Antonio Calanni)

Herr Passera, Sie haben die Reformen der Regierung von Matteo Renzi unlängst als «Märchen» bezeichnet. Ist das nicht etwas zu streng?

Corrado Passera: Nein, die Bilanz ist desaströs. Ich sehe keine einzige Reform, welche die Wirtschaft und das Land wieder in Schwung bringen könnte. Wir haben fast das ganze Jahr für die Reform des Wahlrechts und des Senats verschwendet, während im Land zehn Millionen Menschen entweder gar keine Arbeit haben oder eine Arbeit, die nicht zum Leben reicht. Rechnet man zu diesen Menschen noch je zwei Angehörige dazu, die ebenfalls unter der Situation zu leiden haben, sind wir bei 30 Millionen Personen – die halbe Bevölkerung Italiens. Diese soziale Notlage ist die Priorität, nicht die Reform des Senats.

Sie bestreiten aber nicht, dass das bisherige System mit zwei gleichberechtigten Parlamentskammern die Gesetzgebung enorm verlangsamt?

Passera: Der Senat wird ja nicht abgeschafft, wie ursprünglich versprochen. Er bleibt erhalten, schlimmer noch: Er wird in die Hände der Regionen gegeben, die – wie wir aufgrund unzähliger Korruptionsskandale wissen – bisher nicht mit Effizienz und Transparenz geglänzt haben. Aber die meisten Regionalräte werden eben von Renzis Partei beherrscht, und damit wird Renzi auch den Senat kontrollieren. Das nennt man eine massgeschneiderte Reform.

Das neue Wahlgesetz soll künftig klare politische Mehrheiten produzieren und damit ebenfalls ein effizienteres Regieren ermöglichen.

Passera: Auch diese Reform ist schlecht gemacht. Das neue Wahlgesetz wird in Kombination mit der Senatsreform dazu führen, dass künftig die ganze Macht in der Hand eines einzigen Mannes vereinigt ist, ohne jedes Gegengewicht. Ausserdem werden die meisten Parlamentarier wie bisher von den Parteichefs ausgewählt. In einer echten Demokratie können sich die Bürger ihre Vertreter selber aussuchen.

Der frühere Ministerpräsident Silvio Berlusconi hat sogar vor der Gefahr eines autoritären Regimes gewarnt …

Passera: Er vergisst, dass er daran mitschuldig ist. Bis vor zwei Wochen hat er diese Reformen unterstützt. Erst seit ihn Renzi bei der Wahl des neuen Staatspräsidenten über den Tisch gezogen hat, sind die Reformen plötzlich falsch. In der Sache hat Berlusconi recht: Wenn in Zukunft die Regierung, das Parlament und die Regionen alle von einer einzigen Partei kontrolliert werden, wird es schwierig, eine politische Alternative aufzubauen.

Es hat auch andere Reformen gegeben. Beispielsweise hat die Regierung für Geringverdiener einen monatlichen Bonus von 80 Euro eingeführt, der die Kaufkraft der Familien jährlich um 10 Milliarden Euro erhöht.

Passera: Was die Regierung mit der einen Hand gegeben hat, hat sie mit der anderen über verschiedene Steuer- und Gebührenerhöhungen wieder an sich genommen. Der Kaufkrafteffekt ist gleich null. Der Bonus ist eine rein wahltaktisch motivierte Operation, die zudem nach dem Giesskannenprinzip funktioniert: Weil der Lohn das einzige Kriterium ist, erhalten den Bonus auch Leute, die über Vermögen und Immobilien verfügen, die keine Kinder haben und deren Ehepartner mitverdienen. Die zehn Milliarden hätte Renzi jenen geben müssen, die sie wirklich nötig haben. Das sind in erster Linie Familien mit Kindern, tiefem Gesamteinkommen und ohne Vermögen.

Im Haushaltgesetz für das Jahr 2015 ist laut Renzi die «grösste Steuersenkung aller Zeiten» enthalten.

Passera: Ein unglaublicher Bluff. In den nächsten vier Jahren wird der italienische Staat trotz der schon heute viel zu hohen Steuerbelastung 68 Milliarden an zusätzlichen Steuern erheben, während die ebenfalls schon zu hohen Ausgaben um 50 Milliarden Euro steigen sollen. Das ist nicht einfach eine Behauptung von mir, sondern das steht in Regierungsdokumenten: Man kann es im Finanzhaushaltsgesetz und den Finanzplänen der nächsten Jahre nachlesen.

Bleibt als letzte der bisher realisierten Reformen noch jene des Arbeitsgesetzes mit einer Aufweichung des Kündigungsschutzes. Ist wenigstens dieses Projekt gelungen?

Passera: Auch dieses Gesetz ist reine Propaganda. Kündigungen aus betrieblich-wirtschaftlichen Gründen sind schon von der Regierung Monti erleichtert worden. Was jetzt noch hinzugefügt wurde, ist irrelevant: Die Änderungen betreffen nur neue Anstellungen, also eine winzige Kategorie, für die sich ausserdem nur sehr wenig ändert. Das sogenannte Job-Acts-Gesetz erhöht wieder die Starrheit des Arbeitsmarkts, da einige flexible Arbeitsverhältnisse, die wir eingeführt haben, wieder abgeschafft werden.

Unter der Regierung Monti, der Sie als wichtiger Minister angehört haben, ist die Steuerbelastung ebenfalls gestiegen, und viele Reformen blieben unvollendet.

Passera: Das stimmt. Aber die Regierung Monti war eine Notstandsregierung: Die zentrale Mission bestand darin, eine Unterstellung unter die Troika und damit einen Souveränitätsverlust zu verhindern, wie ihn Griechenland erlebt. In den ersten zehn Jahren des neuen Jahrtausends ist Italien katastrophal regiert worden, so dass wir ab dem Sommer 2011 Gefahr liefen, uns an den Finanzmärkten nicht mehr finanzieren zu können. Die Regierung Monti musste in erster Linie den Staatshaushalt wieder unter Kontrolle bringen und das Vertrauen der Finanzmärkte zurückgewinnen. Diese Mission wurde erfüllt.

Daneben hatte aber auch Monti Strukturreformen versprochen, und am Ende ist wenig davon übriggeblieben.

Passera: Immerhin haben wir die europaweit radikalste Rentenreform durchgeführt. Dazu kamen ein Sparpaket von 30 Milliarden Euro, ein Antikorruptionsgesetz, die Liberalisierung des Bankenwesens und weitere Reformen. Zugegeben: Das ist nicht genug. Das Problem war: Mit dem Näherrücken der Wahlen im Frühling 2013 mochten die Parteien, die uns im Parlament zuvor unterstützt hatten, bei den meist sehr unpopulären Reformen nicht mehr mitziehen.

30 Milliarden Einsparungen bei einem Staatshaushalt von 800 Milliarden sind wenig berauschend.

Passera: Es reicht in der Tat nicht. Was aber unter Renzi passiert, hat eine andere Tragweite: Statt die Ausgaben zu senken, hat die Regierung den Sparkommissar entlassen, der noch von seinem Vorgänger Enrico Letta eingesetzt worden war; der Bericht des Kommissars wird geheim gehalten. Die einzige sogenannte Sparmassnahme, die Renzi bisher durchgeführt hat, besteht in der Kürzung von 40 Milliarden Euro an die Regionen – mit dem absehbaren Resultat, dass die Regionen gezwungen sein werden, im gleichen Umfang die Steuern zu erhöhen.

Italien wirkt irgendwie unreformierbar. Warum ist es eigentlich so schwierig, Veränderungen durchzusetzen?

Passera: Nun ja, einige Reformen sind ja gemacht worden. Um die Widerstände zu überwinden, braucht es Entschiedenheit, Mut und vor allem Ausdauer. Das hat den bisherigen Regierungen meist gefehlt, und so ist vieles auf halbem Weg stehengeblieben.

Trotz der Monti-Kur wächst die italienische Staatsschuld weiter – um alarmierende 100 Milliarden Euro pro Jahr. Drohen am Ende nicht doch griechische Zustände?

Passera: Derzeit sind die etwa 80 Milliarden, welche wir für die Schuldzinsen pro Jahr aufwenden, tragbar. Aber nur, weil wir uns dank der historisch tiefen Zinsen und des vorteilhaften Wechselkurses in einer einmalig günstigen Situation befinden. Das wird nicht ewig so bleiben. Wir müssen zwingend zum Wachstum zurückkehren, bevor die Zinsen in einem oder zwei Jahren wieder zu steigen beginnen. Wir dürfen keine Minute verlieren. Doch die heutige Regierung lässt diese vorteilhaften Jahre ungenutzt verstreichen.