Kindeswohl
Professorin zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche: «Die Gefahr geht nicht in erster Linie von Fremden aus»

Julia Gebrande, Sozialpädagogin, Hochschulprofessorin und Buchautorin, weiss um die traumatischen Folgen von Missbrauch auf Jungen und Mädchen. Im Gespräch erzählt sie, wie Kinder und Jugendliche darauf reagieren, wie Angehörige ihnen helfen können und welche professionelle Hilfe es für Betroffene gibt.

Michael Gottstein
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Julia Gebrande stammt aus Bad Säckingen. Sie ist Sozialpädagogin und Professorin.

Julia Gebrande stammt aus Bad Säckingen. Sie ist Sozialpädagogin und Professorin.

Michael Gottstein / Aargauer Zeitung

Nach Schätzungen hat jeder siebte bis achte Erwachsene in Kindheit und Jugend sexuelle Gewalt erfahren. Julia Gebrande, Sozialpädagogin und Hochschulprofessorin, geht seit mehr als 20 Jahren den Fragen nach der individuellen und kollektiven Bewältigung sexualisierter Gewalt nach. Jüngst hielt sie darüber in der Region auch einen Vortrag.

Frau Gebrande, gibt es Möglichkeiten zu erkennen, ob Kinder oder Jugendliche sexuelle Gewalt erfahren?

Julia Gebrande: Das ist nicht so einfach, denn es gibt keine klaren Symptomlisten. Es gibt zwar Signale, die auf Missbrauch hindeuten könnten, zum Beispiel Rückschritte in der Entwicklung oder Verhaltensänderungen, aber diese Signale können auch andere, harmlosere Ursachen haben, etwa den Tod eines geliebten Haustieres.

Reagieren Jungen und Mädchen gleich auf sexuelle Gewalt?

Viele Kinder erleben sexuelle Gewalt als Traumatisierung und reagieren darauf ganz unterschiedlich. Tendenziell richten Mädchen ein zerstörerisches Verhalten eher gegen sich selbst oder neigen zu Depressionen, während Jungen es eher nach aussen verlagern und ein aggressives Verhalten an den Tag legen können. Aber dies gilt nur im Allgemeinen. Im Einzelfall können sich die Folgen auch anders äussern. Viele betroffene Kinder fallen nach aussen hin gar nicht durch ihr Verhalten auf.

Wie äussern sich die Folgen sexueller Gewalt?

Die Folgen für die Betroffenen sind in den meisten Fällen gravierend und zeigen sich auf körperlicher, psychologischer und sozialer Ebene, und viele Opfer leiden ihr Leben lang darunter.

Was kann man über die Täter sagen?

Es ist nicht in erster Linie der fremde Mann auf der Strasse, von dem die Gefahr ausgeht. Die meisten Missbrauchsfälle ereignen sich im vertrauten sozialen Umfeld. Die Täter machen sich das Vertrauen der Kinder und Jugendlichen und deren Suche nach Aufmerksamkeit zunutze. Sie nutzen die Machtverhältnisse zum Zwecke der eigenen sexuellen Befriedigung aus.

Sind es wirklich immer nur Männer?

Dabei müssen sie nicht notwendigerweise pädophil und männlich sein. Der Frauenanteil an den Missbrauchenden liegt zwischen 4 und 25 Prozent, Genaueres ist wegen des grossen Dunkelfeldes nur schwer zu sagen. Ein Drittel der Taten wird sogar von Jugendlichen unter 21 Jahren begangen.

Wie sind die Täter zu erkennen?

Die Täter sind schwer zu identifizieren, denn oft sind sie in der Gemeinschaft anerkannt und engagiert, wobei viele manipulativ vorgehen und ihre Position zielgerichtet nutzen, um mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt zu kommen.

Was kann das Umfeld tun, um solche Vorfälle zu erkennen oder zu vermeiden?

Hier sind neben den Familienangehörigen vor allem Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer gefragt, denn sie sind wichtige Vertrauenspersonen ausserhalb der Familie. Ganz wichtig ist es, den Kindern und Jugendlichen zuzuhören und die eigene Bereitschaft zum Zuhören klar zu signalisieren. Man könnte sagen, dass man sich den Kindern als Landeplatz anbieten sollte.

Was raten Sie bei Verdacht auf sexuelle Gewalterfahrungen?

Gerade weil sexuelle Gewalterfahrungen für Aussenstehende schwer zu diagnostizieren sind, sollte man Dramatisierungen ebenso vermeiden wie Bagatellisierungen. Empfehlenswert ist es immer, bei Verdacht die Hilfe professioneller Beratungsstellen hinzuzuziehen, zum Beispiel die Hotline von N.I.N.A. oder örtliche Fachberatungsstelle. Vor allem darf man die Verantwortung nicht auf die Opfer abschieben, denn Kinder und Jugendliche sind nie schuld oder mitschuldig, wenn ihnen sexuelle Gewalt widerfährt.

Die Gesellschaft scheint sensibilisiert zu sein, aber wo liegen noch Defizite?

Es wäre wichtig, nicht nur Spezialisten auf diesem Gebiet auszubilden, sondern dieses Thema auch in die grundständige Ausbildung und das Studium im Bereich Jura, Polizei und Pädagogik zu integrieren.