Stadtmuseum Aarau
«Gelebte Traditionen»: Auf Zeitreise mit Maienzug, Bachfischet und Co.

Was die letzten zwei Jahre anders oder gar nicht gefeiert wurde, kommt nun im Aarauer Stadtmuseum zu Ehren: Die Traditionen. Gut 100 Pressebilder aus dem Ringier Bildarchiv zeigen die schönsten Momente von Maienzug, Meitlisunntig oder Bachfischet.

Katja Schlegel
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Mirjam Brunner, Assistentin Fachbereich Fotografie im Stadtmuseum Aarau, hat die Bilderschau zu «Gelebte Traditionen» zusammengestellt.

Mirjam Brunner, Assistentin Fachbereich Fotografie im Stadtmuseum Aarau, hat die Bilderschau zu «Gelebte Traditionen» zusammengestellt.

Katja Schlegel

Vielleicht sind die Zöpfe etwas straffer und länger. Und ja, die Kleidchen wirken etwas zugeknöpfter. Aber sonst? Nein, sonst würde man dem Bild sein Alter nicht anmerken, zumindest nicht auf den ersten Blick. Verräterisch sind nur die ungewohnten Schriftzüge an den Häusern, die aus der Zeit gefallenen Schnitte der festlichen Kostüme der Zuschauerinnen am Strassenrand. Der Fokus der Aufnahme aber wirkt nahezu zeitlos.

Das Bild zeigt den Umzug am Maienzug 1946. Es ist eines von knapp 100 Pressebildern aus dem Ringier Bildarchiv, die aktuell im Stadtmuseum Aarau gezeigt werden. Der Titel dieser Bilderschau: «Gelebte Traditionen». Der Maienzug ist natürlich nur eine dieser Traditionen; gezeigt werden beispielsweise auch der «Bachfischet» oder «Nuss Nuss», der «Meitlisunntig» und das «Chlaus-Chlöpfe» im Seetal, die «Badenfahrt» oder die «Sebastiani-Bruderschaft» in Rheinfelden, die noch immer Jahr für Jahr an die Pestepidemie im Jahr 1541 erinnert.

Die Herkunft der Tradition des Bachfischets: Der Stadtbach wird vor der Reinigung leer gefischt, 30. September 1944.

Die Herkunft der Tradition des Bachfischets: Der Stadtbach wird vor der Reinigung leer gefischt, 30. September 1944.

Björn Eric Lindroos / StAAG

Über 700 Dossiers zum Thema «Bräuche»

Federführend beim Zusammenstellen dieser Bilderschau war Mirjam Brunner. Während eines Jahres hat sie sich durch die Abertausenden Fotografien aus über 700 Dossiers gearbeitet, die der Teilbestand «Bräuche» umfasst. Dieser ist Teil des Ringier Bildarchivs und stammt zur Hauptsache aus dem ATP-Bestand, der Bildagentur von Arnold Theodor Pfister, die 1962 an die Ringier AG überging. Wie gross die Wichtigkeit der «Bräuche» für die Pressefotografie war, zeigt der Umfang der Sammlung: Alleine für den Monat Dezember finden sich 148 einzelne Bilddossiers zu Ereignissen wie «Samichlaus», «Sternsingen» oder «Silvesterbräuchen».

Eine Gruppe Frauen «fängt» einen Mann ein und bringt ihn ins nächste Restaurant. Dort muss er sich mit einer Runde Wein und Wasser wieder freikaufen, Januar 1960.

Eine Gruppe Frauen «fängt» einen Mann ein und bringt ihn ins nächste Restaurant. Dort muss er sich mit einer Runde Wein und Wasser wieder freikaufen, Januar 1960.

Leonard Zubler /StAAG

Das Schöne an dieser Suche, an diesen Bildern: sie sind nah, sie berühren. «Zu Brauchtum haben alle einen engen Bezug, weil jeder und jede Bräuche kennt, viele sie leben», sagt Brunner. Und da ist das Foto als Medium wohl das wichtigste überhaupt: Automatisch sucht man die Gesichter nach bekannten Zügen ab, die Häuser am Bildrand, man knüpft an eigene Erinnerungen an. Brunner hat für «Gelebte Traditionen» aber nicht bloss «schöne Bilder» ausgesucht, sondern solche, die der Betrachterin oder dem Betrachter das Pressebild näherbringt. «Man sieht diesen Bildern an, dass sie nicht für ein Familienalbum gemacht wurden, dass sie einen anderen Zweck haben, den Zweck der Dokumentation und der Veröffentlichung in der Presse.» Das will Brunner vermitteln, ebenso wie die Art, wie die Bilder archiviert und mit welchen Kontextinformationen sie versehen wurden.

Dokumentiert sind auch nahezu verschwundene Bräuche

Doch zurück zum Sommer, zurück zum Maienzug. «Zeitlos», dieser Begriff mag auf einzelne Aufnahmen wohl zutreffen, sagt Brunner. «Aber grundsätzlich war ich überrascht, wie stark sich die Bräuche doch verändert haben». Manche, wie das Oserfeuer von Merenschwand, seien gar nahezu verschwunden.

Die Mädchen freuen sich über die ergatterten Nüsse und Rappenstücke am Aarauer «Nuss-Nuss», 18. November 1950.

Die Mädchen freuen sich über die ergatterten Nüsse und Rappenstücke am Aarauer «Nuss-Nuss», 18. November 1950.

StAAG

Dem pflichtet auch Historikerin Annina Sandmeier-Walt bei, die sich für «Zeitgeschichte Aargau», den neuen Band der Kantonsgeschichte von 1950–2000, mit den Bräuchen im Aargau beschäftigt hat: «Vieles, was als jahrhundertelange Tradition gefeiert wird, ist oft erst in den letzten zwei Jahrhunderten entstanden oder hat sich in dieser Zeit stark verändert. Vieles hat gar nur überlebt, weil Einzelne die Initiative ergriffen und Brauchtümer vor dem Verschwinden gerettet haben.» Traditionen – wie das Bärzeli in Hallwil oder der Bachfischet – hätten damit deutlich an Stellenwert gewonnen, so Sandmeier. Warum dem so ist, ist einfach zu erklären: «Je schnelllebiger alles wird, je rasanter die Entwicklung vonstattengeht, desto stärker wird das Bedürfnis nach Bewahren und Erhalten.» Doch bei aller Begeisterung fürs Bewahren: Konservieren könne man Bräuche nicht. «Bräuche brauchen Vermittlung. Und damit diese fruchtet, braucht es Menschen, die sich damit identifizieren können.»

Drei Frauen am Meitlisunntig in Meisterschwanden am 13. Januar 1964.

Drei Frauen am Meitlisunntig in Meisterschwanden am 13. Januar 1964.

Siegbert Maurer/StAAG

Was alle Bilder in der Bilderschau eint: Die in die Gesichter geschriebene Freude über das kurzzeitige Entfliehen aus dem Alltag. Ein Gefühl, das in den letzten zwei Jahren oftmals gefehlt hat oder zu kurz gekommen ist. Und ein weiterer Grund, sich die Bilderschau gerade jetzt anzuschauen: Um die Vorfreude auf das Wiedererwachen der Traditionen zu wecken.

Hinweis

«Gelebte Traditionen», Bilderschau auf der Plattform F im Stadtmuseum Aarau. Führung am 20. Februar um 14 Uhr. Schauarchiv am 26. Juni, 13.30 bis 16.30 Uhr. Infos unter www.stadtmuseum.ch.